#1

Auf Haleths Spuren

in Geschichten und Erzählungen 13.12.2010 09:00
von Gaerwen (gelöscht)
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Prolog

Gaerwen biss sich auf die Zähne. Der Halbork hatte mittlerweile wohl seine Bestimmung darin gefunden, sie zu treten; jedenfalls tat er es, so oft er an ihr vorbeikam. Ihre Beine schmerzten sie nach dem heutigen Marsch ohnehin, aber sie wollte dem stinkenden Mistkerl nicht den Gefallen tun, auch nur einen Laut von sich zu geben. Immerhin, dachte sie dankbar, haben sie mich nicht genau genug durchgesucht, um festzustellen, dass ich eine Frau bin. Ich möchte nicht wissen, auf welche Ideen sie dieser Umstand vielleicht brächte. Immer noch fragte sie sich, warum die Kreaturen sie mitschleppten, anstatt sie einfach zu töten. Seit drei Tagen stolperte sie nun gefesselt zwischen ihnen her. Für einen Moment schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihre anderen Sinne.

Ihre Gefangenenwärter, Tarkrip-Orks, hatten ein Feuer entzündet und sich darum gruppiert. Wie stets roch die Luft nach Schweiß und Wut. Gaerwen hörte grollende Wortfetzen und hin und wieder ein aggressives Brüllen. Gelegentlich schnarrte die heisere Stimme des Halborks dazwischen, auf den sie alle hörten. Gaerwen erinnerte sich für einen Moment daran, wie er sie mit einem Tritt aus ihrer Bewusstlosigkeit geweckt hatte, nachdem sie sie im Schlaf überwältigt hatten. Eine Welle heißer Wut überspülte sie, bevor sie sich zwang, ruhiger zu atmen. Sie hatte es so weit geschafft, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. War Begegnungen aus dem Weg gegangen, hatte Edoras gemieden und Fangorn und Lothlorien weit umgangen. In Bruchtal hatten die Elben sie zu Elrond gebracht; doch er hatte sie nur mit Verpflegung versorgen lassen, ohne Fragen zu stellen. Dann hatte sie die Trollhöhen hinter sich gebracht und sich erleichtert an einem scheinbar sicheren Ort zum Schlafen niedergelegt. Bis der Halbork sie auf seine Art geweckt hatte. Seitdem waren sie mit ihr nach Süden gezogen, in schnellem Tempo, ohne lange zu rasten. Nach Süden! Dort wollte sie nicht hin.

Ein leises Surren weckte sie aus einem kurzen Schlaf. Im Schein des Feuers sah sie, wie ein Tarkrip, der sich in ihrer Nähe niedergelassen hatte, ohne einen Laut hintenüber sackte. Überrascht richtete sie ihren Oberkörper halb auf, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie wieder nach unten drückte. Zitternd blieb Gaerwen liegen. Wem gehörte diese Hand? Wieder hörte sie das Surren, etwas weiter entfernt, mehrfach. Dann ertönte ein Schrei. Hinter ihr hörte sie eine merkwürdig tiefe und klare Frauenstimme: „Los, Mearwyn“, sagte sie, „hilf der Jägerin!“ Schwere Schritte stapften hastig an ihr vorbei, gefolgt von dem Klang von Eisen, das auf Eisen prallte. Wütendes Brüllen zeigte, dass die Orks sich nun gegen den Angriff wehrten. Und dann spürte Gaerwen, wie eine Klinge an den Stricken um ihre Hände zerrte. „Kannst du dich bewegen?“, fragte sie die Stimme, während nun auch die Stricke um ihre Füße durchtrennt wurden. Gaerwen nickte und rieb sich die Hände, während sie sich zu ihrer Befreierin umdrehte. Eine Elbin! „Nimm das hier“, sagte diese und drückte ihr ein Orkschwert in die Hand. Gaerwen zwang sich aus der Hocke empor und lief auf das Lagerfeuer zu. Hinter sich hörte sie, wie die Elbin mit ihrer tiefen Stimme zu singen begann.

Zwei Gestalten rangen am Feuer mit fast einem Dutzend Orks. Gaerwen warf sich auf einen der Orks, der der schmaleren Gestalt von hinten ein Beil über den Schädel ziehen wollte, und stieß ihm das Schwert in den Bauch. Einem zweiten konnte sie gerade noch ihren Ellenbogen zwischen die Rippen schlagen, bevor er sie zu Boden werfen konnte. Hastig zog sie das Schwert aus dem einen, um den anderen damit zu enthaupten. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie die blonde Frau auf der anderen Seite des Feuers mit ihrem Schild gleich zwei Angreifer zu Boden schmetterte und anschließend mit einem schnellen Schwertstich tötete. Zeit zur verblüfften Betrachtung blieb ihr nicht, da nun der Halbork mit einem wütenden Schrei auf sie losstürmte. Keuchend richtete sich Gaerwen auf und blickte ihm entgegen. In der Nähe ertönte plötzlich ein lauter Schrei voller Zorn und Stärke. Der Halbork erstarrte mitten in der Bewegung, genau wie die verbliebenen sechs Orks. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Mit einem verzweifelten Heulen wandte er sich dann ab und rannte wie von Barghests gebissen in die Dunkelheit. Seine Tarkrips folgten ihm, kraft- und mutlos. Fassungslos blickten ihnen die drei Kämpferinnen hinterher.

„Schnell, weg hier!“, riss sie die Elbin aus ihrer Verwunderung. „Ich brauche die Pfeile“, entgegnete die schmale Gestalt neben Gaerwen und begann, einige davon aufzusammeln. „Law, nein! Lass sie liegen. Wir müssen hier weg! Sie werden wiederkommen.“ Die Elbin lief los, leichten Fußes und schnell. Mit einem Achselzucken folgte ihr die Jägerin und dann auch die Blonde, die sich ihren Schild auf den Rücken schob, um besser laufen zu können. Gaerwen trabte hinterher wie ein Kind dem Lehrer. In der Hand hielt sie noch das Orkschwert, von dessen Schneide schwarze Tropfen fielen. So liefen sie durch die Nacht, diesmal nach Norden.

Gaerwen konnte sich später nicht erinnern, dass sie in jener Nacht darüber nachgedacht hätte, wie lange sie laufen würden und wohin. Sie war viel zu verwundert und seltsam berührt gewesen, um zu denken. Dennoch war es wohl gut, dass die Gruppe nach einer Weile einen kleinen Hain erreichte, in dem drei Pferde angebunden waren. Gaerwen stützte die Hände auf die Oberschenkel und keuchte, erschöpft von dem schnellen Lauf. Die Elbin ließ keiner von den Frauen Zeit zum Erholen. „Macht eure Tiere los“, befahl sie, und mit einem Blick auf Gaerwen: „Du reitest mit mir.“ Sie schwang sich auf den Braunen und reichte ihr eine Hand. „Ortho! Steig auf!“ Gaerwen ergriff ihre Hand und sprang, von einem kräftigen Zug der Elbin an ihrem Arm unterstützt, auf das Pferd. Die anderen beiden Frauen hatten ihre Rösser nun auch losgebunden und schwangen sich auf deren Rücken. Gaerwen legte ihre Hände um die in raues Leder gekleidete Taille der Elbin. „Noro, Baraniel, lauf“, murmelte diese. Die Stute setzte sich ruckartig in Bewegung, gefolgt von den anderen beiden Pferden.

„Wie lautet dein Name“, fragte Gaerwen nach einigen Meilen in den Rücken vor ihr. „Mein Name?“, lachte die Elbin. „Du bist nicht höflich, Adaneth, Menschenfrau – solltest du mir nicht zunächst deinen nennen? Aber es soll mir gleich sein. Ich bin Lothlinn und die beiden hinter uns sind Mearwyn und Caleniel.“ Gaerwen wurde etwas rot, was in der Dunkelheit dankenswerterweise nicht auffiel. „Hanon le, ich danke dir, Lothlinn. Ich bin Gaerwen.“ Lothlinn drehte sich zu ihr herum. „Du sprichst Sindarin?“, wunderte sie sich und wechselte ganz in die Elbensprache. „Woher stammst du, Gaerwen?“ „Ich wuchs auf einer Insel in Dol Amroth auf. Tolfalas heißt sie.“ Lothlinn nickte. „Noch ein Kind Gondors. Caleniel stammt auch von dort, aber nicht von deiner Insel. Sie wurde in den weißen Mauern Minas Tiriths geboren. Mearwyn hingegen ist eine Kriegerin aus den saftigen Auen Rohans. Eine `Schildmaid´, wie die Männer des Landes wohl sagen würden.“ Sie lachte wieder mit ihrer dunkelwarmen Stimme. „Aber nun genug der Vorstellungsrunde, wir haben einen langen Weg vor uns.“

Hinter ihnen beiden auf Baraniel ritten stumm Mearwyn und Caleniel. Gaerwen wendete sich kurz um und nickte den beiden zu. Caleniel nickte zurück, Mearwyn grinste sie breit an. „Schau nach vorn“, brüllte sie, „sonst übersiehst du nachher wieder einen Ork, Schwarzkopf!“ Dann brüllte sie wieder, diesmal vor Lachen. Gaerwen musste einfach mitlachen, so unbeschwert klang das. „Wenn du weiter so brüllst, Mearwyn, wird es hier von Orks bald nur so wimmeln“, rief Caleniel mahnend. „Und ich habe kaum noch Pfeile.“ Mearwyn nickte, ihr Grinsen reichte immer noch von einem Ohr zum anderen. „Keine Sorge, Birkenpfeil, ich passe auf dich auf!“ Caleniel schüttelte ergeben den Kopf und spornte ihr Pferd weiter an. Lothlinn hingegen zügelte Baraniel und ließ sich neben die Frau aus Rohan zurück fallen. „Mearwyn, hör auf“, sagte sie auf Westron eindringlich zu der Blonden, „wir sind nur knapp entronnen. Und ich möchte das nicht aufs Spiel setzen, weil du die Steppen der Einsamen Lande mit einer Schänke in Rohan verwechselst, Firiel, Mädchen.“ Sie trieb die Stute wieder an und setzte sich erneut an die Spitze des Trupps. Gaerwen sah Mearwyn immer noch grinsen, als sie sich umschaute. Aber sie blieb nun still.

Als der Morgen dämmerte waren die Pferde spürbar erschöpft. Lothlinn ließ sie endlich im Schritt gehen und blickte aufmerksam über Baraniels braunen Kopf. „Den Valar sei Dank“, murmelte sie plötzlich und lächelte erleichtert. „Was siehst du?“, fragte Gaerwen. „Die Mauern der Feste Guruth. Es ist nicht mehr so weit, einen halben Tagesritt etwa.“ Gaerwen staunte über die Schärfe der Elbenaugen. Caleniel und Mearwyn ließen ihre Pferde neben Baraniel gehen. „Dann nähern wir uns dem Breeland langsam“, murmelte Caleniel. Lothlinn runzelte die Stirn. „Langsam, ja.“ Mearwyn streckte sich genüsslich. „Hauptsache, es gibt endlich wieder etwas zu essen und zu trinken. Ich bin schon ganz hohl...“ Lothlinn schaute sie an und zog eine Augenbraue hoch. „Pökelfleisch und Wasser hinterlassen also hohle Stellen bei dir? Hm, das klingt ernst. Als Heilerin empfehle ich da strenges Fasten.“ Mearwyns Kopf fuhr ruckartig hoch. „Lothlinn, ich... Ach, jedes mal falle ich auf deine Scherze herein!“ Sie grinste schief. „Und dennoch: Wenn ich Kreaturen sehe, wie diesen Halbork gestern – da fühle ich mich wirklich innerlich leer.“ Sie seufzte. „Wie bist du in die Gefangenschaft dieser Tiere geraten, Gaerwen?“ Auch Caleniel und Lothlinn wollten nun hören, was sich zugetragen hatte. Mit einigen kurzen Sätzen schilderte Gaerwen ihnen den Hergang. „Immerhin haben sie nicht gemerkt, dass ich eine Frau bin“, schloss sie ihren Bericht und deutete auf ihre kurzen Haare, „ich möchte gar nicht wissen, was sonst geschehen wäre.“ Caleniel nickte. Lothlinn hingegen schüttelte den Kopf. „Das haben sie gemerkt.“ Gaerwen starrte sie entgeistert an. „Das glaube ich nicht. Dann hätten sie mich bestimmt nacheinander vergewaltigt.“ Lothlinn sah sie gelassen an, ihre hellgrünen Augen schimmerten. „Nein, denn das war ihnen von ihrem Herrn verboten, denke ich.“ Keine der drei Menschenfrauen verstand, worauf die Elbin hinaus wollte. „Er züchtet Orks. Er experimentiert. Er will unbesiegbare Orks erschaffen. Oder -“, sie wandte sich zu Gaerwen um, „unbesiegbare Halborks.“ Gaerwen starrte in die unbewegten Züge unter der weißen Kapuze des Elbenumhangs. „Nein“, sagte sie entschieden. Selbst Mearwyns Gesicht hatte jeden Zug von Schalk verloren. „Doch“, erwiderte Lothlinn. „Eine Frau, die Spuren von Numenor im Blut hat – er wird dem Halbork gesagt haben, wonach er Ausschau halten soll: Dunkle Haare, helle Augen, die stolze Haltung.“ Gaerwen starrte sie weiter an, versuchte in den unbegreiflich hellgrünen Augen zu lesen. Dann beugte sie sich abrupt zur Seite und erbrach sich von Baraniels Rücken herab auf die trockenen Steppenhalme. Lothlinn hatte sich unterdessen wieder nach vorne gewandt und sagte nichts mehr. Gaerwen richtete sich wieder auf und wischte sich den Mund an ihrem Lederhandschuh ab. „Und ich hatte Angst vorm Tod“, sagte sie und lachte heiser. Caleniel sah sie mitfühlend an, das Gesicht noch weiß wie Schnee, Mearwyn knurrte in sich hinein wie ein gefangener Wolf. Lothlinn klopfte Baraniel auf den Hals und drückte ihr ihre Fersen in die Flanken. „Kommt, Frauen“, sagte sie, „die Feste Guruth wird uns eine Zuflucht bieten.“

zuletzt bearbeitet 18.12.2010 22:56 | nach oben springen

#2

RE: Auf Haleths Spuren

in Geschichten und Erzählungen 14.12.2010 22:02
von Gaerwen (gelöscht)
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Kapitel 1

„Komm“, sagte Mearwyn kauend und schlug Gaerwen auf die Schulter, „ich garantiere dir, dass ich es auf zehn Meilen rieche, wenn es hier ein Fass Bier gibt.“ Sie schaute Gaerwen einen Moment misstrauisch an und schob den Bissen im Mund hin und her. „Du magst doch Bier? Oder?“ Gaerwen grinste und nickte ihr zu. „Klar mag ich Bier.“ Nachdenklich schritt sie neben Mearwyns breiten Tritten einher. Wie, fragte sie sich, kann diese eher schmale Frau so wirken, als sei sie ein Mann; ein Mann, so breit wie hoch? „Mearwyn?“, fragte sie. „Hmm?“, kaute diese. „Ach, nichts.“

Sie waren freundlich, fast geistesabwesend aufgenommen worden in der Feste Guruth. Alle dort schienen geistesabwesend zu sein, dachte Gaerwen. Fast ein bisschen tot, und dennoch bis zum äußersten kampfbereit und angespannt. Sie hatte Angst in Augen gesehen, aber vor allem Zorn und finstere Entschlossenheit.

Mearwyns Augen strahlten plötzlich auf. „Siehst du!“, rief sie, „ich hab es doch gesagt!“ Sie klopfte an ihre Nase und griff dann nach Gaerwens Oberarm, um die Waffenmeisterin hinter sich her auf einen kleinen Zeltpavillon zu zu ziehen. „Zum Gruß, kleiner Herr“, lächelte sie den wohl gerüsteten Zwergen in dessen Schutz zu Grunde, „es riecht vortrefflich nach Hopfen bei euch!“ Der Zwerg starrte sie fassungslos an: „Klein?“ Er fasste sich jedoch lobenswert schnell. „Hopfen, ja, edle Damen-“, nun warf er ihnen einen von seinen Augenbrauen stark gebremsten Blick zu, „edelster Hopfen und das vortrefflichste Bier!Besser als das Hobbitgebräu in Bree! Ha!“ „Gut“, entgegnete Mearwyn langgezogen und sehr genüsslich. „Bringt uns genug. Und ich meine: genug.“ Sie zwinkerte dem Zwerg verschwörerisch zu. Dieser schaute beide Frauen noch einmal an und vollführte einen lässigen Wink hinter seinen Rücken. „Nehmt Platz, meine Damen, nehmt Platz“, sagte er dann ein wenig säuselnd und wies auf einen Holztisch samt Bänken.

Gaerwen nickt ihm freundlich zu, blieb aber stehen. „Herr Zwerg“, flüsterte sie dem schwarzbärtigen Geschäftsmann ins Ohr, „ich bin keine Dame. Wir sind keine Damen. Versteht ihr das? Oder soll ich es euch erklären?“ Sie lächelte ihn freundlich an. Der Zwerg betrachtete sie schicksalsergeben. „Ihr braucht nichts zu erklären.“ Mearwyn, die rittlings auf einer der Bänke Platz genommen hatte, schaute kurz zu dem beiden hinüber, holte dann aber eine abgekaute Pfeife aus einer Tasche. „Ach, Schwarzkopf, mach ihn nicht kopfscheu. Nachher wird sein Bier sauer oder so.“ Gaerwen setzte sich neben sie. „Kopfscheu? Mearwyn, er ist doch kein Pferd. Sag mal, was machst du überhaupt hier? Was treibt dich von Rohan hierher?“ Mearwyn stopfte sorgfältig die Pfeife. „Ich habe die Elbin begleitet. Sie zahlt.“ „Lothlinn? Sie zahlt, damit du sie begleitest?“ Gaerwen schaute Mearwyn fassungslos an. „Erzähl mir nichts.“ Mearwyn kaute ihre Pfeife von der linken in die rechte Backe. „Schwarzkopf, dafür, dass wir dich gerade erst aus einem Orklager geholt haben, bist du reichlich obenauf.“ Mearwyn stieß den ersten Rauch mit Genuss nach Westen aus und grunzte zufrieden. „Warum sollte ich dir das erzählen, wenn es nicht so wäre?“

Gaerwen wartete, bis der anrückende Zwerg zwei gewaltige Humpen vor ihnen abgestellt hatte. „Bitte sehr, die... Herrschaften“, grummelte er. Gaerwen nickte ihm anerkennend zu und wandte sich wieder Mearwyn zu. „Wofür braucht die Elbin bezahlte Begleitung? Sie kommt doch wohl hervorragend allein klar? Wo will sie überhaupt hin?“ Mearwyn setzte den halbleeren Humpen ab. „Das weiß ich nicht, Frau Ich-will-alles-wissen! Ich habe keine Ahnung! Mir ist das auch egal. Welche Rolle soll denn das spielen?“ Gaerwen hob ihren eigenen Humpen und nahm einen kräftigen Schluck. „Weiß ich nicht. Es ist immer gut, über Mitreisende Bescheid zu wissen.“ Mearwyn winkte dem Zwerg Bescheid, er solle Nachschub bringen, und grinste Gaerwen an. „Klar, Schwarzkopf. Es ist auch gut, eine Klinge so schnell aus einem Tarkrip zu ziehen, dass man den nächsten auch noch erwischt. Kann aber nicht jede, glaube ich.“ Sie gluckste vor sich hin. „Hab schon langsamere gesehen, übrigens. Und ich hab viele gesehen.“

Gaerwen suchte in der Innentasche ihres Mantels nach ihrer Pfeife. „Du bist Söldnerin, oder?“, fragte sie Mearwyn. Die Wächterin nickte. „Ja, bin ich. Und da ist nichts Falsches dran, glaub mir. Wäre ich Hebamme, hätte ich wohl ähnlich viel Blut gesehen, was?“. Sie brüllte lauthals los vor Lachen und schlug Gaerwen auf die Schulter. Gaerwen musste einfach mitlachen, so mitreißend war dieses Lachen. „Keine Ahnung“, grinste sie, „ich hab noch nie eine Geburt gesehen.“ Mearwyn zog die Augenbrauen hoch. „Keine Geburt? Wie alt bist du, Mädchen?“ Der Zwerg, der die nächsten Humpen vor ihnen abstellte, machte ein Gesicht, als wäre er lieber taub. Gaerwen musste wieder grinsen. „Ich bin 26 Jahre alt, Mearwyn. Und ich bin kein Mädchen. Als ich meine Heimat verließ, war ich Kapitänin eines Schiffs. Und niemand hat mich bisher besiegt, außer diesen feigen Orks, die mich im Schlaf überrannten.“ „Oh“, nickte Mearwyn, „beeindruckend. Kapitänin. Eine Frau. Und niemals besiegt.“ Sie kicherte. „Da kann ich nicht mithalten. Mich hat man schon einige Male vom Pferd gehauen. Und dabei bin ich ein älteres Mädchen als du!“ Sie kicherte wieder und nahm einen tiefen Zug aus dem frischen Humpen. „Und wieso bist du dann jetzt hier, so weit weg vom Meer?“

Gaerwen hätte sich selbst treten können. Diese Frage hatte sie selber herauf beschworen. Sie hustete und wollte gerade etwas albernes über das vorzügliche Bier sagen, als die tiefe Stimme Lothlinns hinter ihnen sagte: „Habt ihr den Zwerg geschlagen? Er guckt so!“ Die Elbin war in Begleitung Caleniels, die ihren Eibenbogen in der Hand trug, als sei sie jederzeit auf einen Angriff gefasst. Mearwyn juchzte: „Kommt, Mädels“, sie klopfte neben sich auf die Bank. „Das Bier ist gut, und dem Zwerg ist nichts geschehen, ich schwörs!“ Über Lothlinns Gesicht schimmerte ein Lächeln. „Wollen wir uns setzen, Jägerin?“, wandte sie sich an Caleniel. Diese nickte verhalten und nahm neben Gaerwen Platz. Lothlinn setzte sich zu Mearwyn. Mit steinerner Miene trat der Zwerg hinzu. „Die Dam- ...schaften wünschen?“ Lothlinn betrachtete ihn besorgt. „Bringt mir einen Humpen von dem Gebräu“, sagte sie sanft und deutete auf die Trinkgefäße der anderen. „Ich möchte Wasser“, ergänzte Caleniel. Der Zwerg erbleichte. „Wasser.“ Caleniel nickte ermunternd. Der Zwerg richtete sich auf. „Gut. Natürlich. Wasser für euch und Bier für das Spitz-... für euch, Frau Elbin, Herrschaft. Ja.“ Lothlinns Augenbrauen kräuselten sich, als Mearwyn vor Lachen fast von der Bank fiel. „Seid ihr schon länger hier, Mearwyn?“ Da Mearwyn nicht antworten konnte, übernahm es Gaerwen, die grinsend zu Boden sah, für sie. „Nein, nein. Das ist erst das zweite -“, sie sah Lothlinn in ihre so eigenartig hellen grünen Augen. Und das war der Moment. Hier endete jede Zeit. Gaerwens Blut gefror und kochte, und es war richtig und wahr und echt.

zuletzt bearbeitet 18.12.2010 23:01 | nach oben springen

#3

RE: Auf Haleths Spuren

in Geschichten und Erzählungen 18.12.2010 22:47
von Gaerwen (gelöscht)
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Kapitel 2

„Genau, das zweite Humpen, äh, das zweite Bier, meine ich“, ergänzte Mearwyn und nickte mit frommem Gesichtsausdruck. Lothlinn zog wieder einmal die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Gaerwen betrachtete sie stumm und atemlos, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Was in gewisser Weise stimmte: Fast noch im Dunkeln waren sie in der Feste angekommen und hatten erst einmal ihre Felle ausgerollt, um einige Stunden zu schlafen. Dann hatte Mearwyn Gaerwen aufgefordert, einen Erkundungsgang mit ihr zu machen. Lothlinns Stimme, diese seltsam tiefe Stimme kannte sie, aber ihr Äußeres war ihr bisher verborgen geblieben. Die helle Haut, die weichen, aber energisch geschwungenen Lippen...

Mearwyn räusperte sich. „Sehr gutes Bier, fanden wir, nicht, Schwarzkopf?“, sie stieß Gaerwen mit dem Ellenbogen in die Seite. Gaerwen rutschte fast der Humpen aus der Hand. „Ja, hervorragend, extrem geschmeidig“, stimmte sie verwirrt bei und starrte Mearwyn ratlos an. „Sehr schön, wirklich.“ `Das Bier´, malte Mearwyn mit den Lippen und starrte die Waffenmeisterin auffordernd an. Gaerwen lachte heiser. „Genau. Das Bier war sehr gut!“

Caleniel hatte das Gespräch aufmerksam beobachtet und konnte nun ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Mearwyn wandte sich jetzt sehr eindringlich an sie: „Nach Bree wolltest du doch, oder, Caleniel?“ „Ja, nach Bree“, wiederholte die Jägerin gedankenvoll und betrachtete immer noch Gaerwen, deren Augen groß und strahlend schienen wie Sterne. „Wegen dieses Kerls, wie hieß der nochmal, Lothlinn?“ Mearwyn gab nicht auf, doch die Elbin reagierte nicht. Caleniel stöhnte. „Du meinst meinen Bruder, Mearwyn. Calenion.“ Ihr Gesicht verschloss sich.

Gaerwen fragte sich, ob Lothlinns Augenbrauen aus kleinen, behutsam kriechenden Tieren bestanden. Sie bewegten sich unentwegt, als wollten sie ein neues Land entdecken. Vielleicht das Hoheitsgebiet der kristallgrünen Augen, die aus einer anderen Welt zu sein schienen? „Gaerwen?“ Gaerwen!“ Sie zuckte zusammen unter dem sanften Klang dieser magischen Stimme. „Ja. Genau!“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Mearwyn und Caleniel sie beobachteten. Sie räusperte sich. „Ich glaube, ich hab geträumt. Was war?“ Lothlinns Augen blickten in ihre, nicht ungnädig oder ungeduldig, sondern forschend. „Wovon, Adaneth?“ Gaerwen spürte ihre Knie weich werden. „Ach, von meinem Schiff“, antwortete sie fast ungnädig. Lothlinns Blick ruhte auf ihr. „Dein Schiff“, wiederholte die Elbin fast singend. „Ja“, Gaerwen rief es fast. „Mein Schiff. Die Lhunaew.“ Lothlinn lächelte. „Was für ein schöner Name.“ Gaerwen fasste ihren Bierkrug fester.

Mearwyn verschluckte sich an ihrem Bier. Nachdem sie sich aus dem Hustenanfall befreit hatte, schaute sie Lothlinn auffordernd an: „Was machen wir nun in Sachen Calenion, Lothlinn?“ Caleniels Blick saugte sich ebenfalls an Lothlinn fest. Die Elbin nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierhumpen. „Wir sind zunächst Gaerwen verpflichtet“, erwiderte sie ruhig. „Gaerwen, wovon haben die Orks dich abgehalten?“ Gaerwen zuckte zusammen. „Die Orks? Ach. Ich war auf dem Weg nach Bree oder Esteldin, hiril, Herrin. Aber ich hatte kein dringendes Anliegen.“ Lothlinn dachte nach. „Wir könnten Hilfe gebrauchen“, schob sich Caleniel dazwischen, „mein Bruder – er ist verschwunden und ich will ihn finden.“ Gaerwen blickte die Jägerin an. „Verschwunden? Von wo?“ Caleniel leckte ihre Unterlippe. „Meine Familie stammt aus Minas Tirith. Ich ging früh fort nach Ithilien in Heermeister Faramirs Schar. Calenion blieb daheim. Er war sehr wissbegierig und sehr rebellisch. Eines Tages ließ mein Vater mich rufen. Calenion war verschwunden. Er hat keine Brief hinterlassen, doch ein Kamerad von ihm hatte beobachtet, wie er sich mit einem merkwürdigen Mann aus Bree angefreundet hatte. Sie haben zusammen getrunken und gespielt.“ Caleniels Augen waren klar vor Wasser, das in ihnen stand. „Er ist mein Zwillingsbruder, auch wenn wir uns nicht wirklich ähnlich sind.“ Mearwyn knuffte Caleniel zärtlich in die Hüfte.

Gaerwen stopfte ihre Pfeife erneut. „Du meinst, er sei mit diesem Mann nach Bree gegangen.“ Caleniel nickte. Gaerwen schaute Mearwyn an. „Und was hast du damit zu schaffen, Mearwyn?“ Mearwyn ballte die Fäuste. „Ich hab es dir doch gesagt, Schwarzkopf“, rief sie empört. Lothlinn legte der Wächterin sanft die Hand auf den Arm. „Mearwyn, lass, sie hat recht, uns zu misstrauen.“ Gaerwen blickte über den Tisch zu dem Zwerg und winkte ihm zu. „Ich bezahle Mearwyn, Adaneth.“ Gaerwen sah auf Lothlinns weiße Hände. „Du bezahlst sie. Warum, in Manwes Namen?“ Lothlinn lächelte und war ihr weiter weg denn je. „Dies ist meine Sache. Vertraust du mir?“ Gaerwen nickte und schaute auf den grobbeplankten Holztisch. „Sicher.“ „Dann komm mit uns nach Bree, Adaneth. Willst du?“ Gaerwen schaute in ihre Augen. “Sicher.“

zuletzt bearbeitet 18.12.2010 23:00 | nach oben springen

#4

RE: Auf Haleths Spuren

in Geschichten und Erzählungen 29.12.2010 23:38
von Gaerwen (gelöscht)
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Kapitel 3

Der Zwerg kassierte ab. Mearwyn verschwand hinter der Festungsmauer, um sich zu erleichtern. Nicht, ohne vorher mit einem vorsichtigen Blick die Umgebung zu überprüfen, sicher war nun mal nichts. Böse grunzend zog sie ihr Lederunterkleid über die Hüften. „Nichts als Ärger. Kein Wunder, wenn eine Elbin dabei ist.“ Sie ließ den Blick über die Hügel wandern. `Hier gibt es nichts, keine Weiden, keine Pferde, keine Äcker´, dachte sie. `Was für ein armes Land.´ Sie drängte alle Gedanken an das Grün Rohans zurück. Die Gedanken an die jungen Pferde. An die Gerstenweiden. An Mearden. Sie lächelte. Zumindest dies war sicher: Er würde sich es gut ergehen lassen. Und sich zuverlässig um die Pferde kümmern. Und Mearic war ja auch noch da. Der Kleine, schmunzelte sie. Er war ja nun größer als sie, hatte aber weichere Hände, als ihre Mutter gehabt hatte. „Mearic“, murmelte sie leise vor sich hin und lachte dann glucksend. Der Kleine hatte alle selbst genähte Kleidung gesprengt. Er war ein Hüne, doch seine Hände waren so weich. Die Pferde liebten ihn. „Mearwyn? Mearwyn!“ Mearwyn seufzte und kleidete sich wieder an. „Ja, ja, Birkenpfeil. Ich komme.“

Caleniel stand wartend an der Mauer. „Lothlinn will weg von hier, Mearwyn“, sagte sie. In ihren Augen glomm ein Flimmern. Mearwyn schaute sie an und grinste. „Du willst weg, Jägerin“, entgegnete sie. „Gut.“ Caleniel schüttelte den Kopf. „Das war nicht meine Idee. Die Elbin meinte, es sei Eile geboten.“ Caleniel biss sich auf die Unterlippe. „Irgendetwas stimmt nicht“, murmelte sie. „Mearwyn, bitte. Ich habe Angst um Calenion!“ Die Wächterin zog ihren Waffengurt fester. „Gut, Mädchen“, erwiderte sie. „Wir gehen.“

Nahe des Westtores waren Gaerwen und Lothlinn schon auf Baraniel aufgesessen. „Kommt“, sagte die Elbin, während sie ihre braune Stute bändigte, „Eile ist geboten.“ Nachdem Caleniel und Mearwyn ihre Pferde bestiegen hatten, galoppierte Lothlinn los. „Wohin?“, rief Mearwyn, die ihr Pferd mühsam beruhigte. „Nach Bree“, murmelte Lothlinn tonlos und schlug den Weg nach Westen ein. Für Mearwyn und Caleniel war dies nicht zu hören. Doch sie lenkten ihre Pferde der Elbin hinterher.

Gaerwen hatte Lothlinn mit einem Menschen reden sehen, der in ihren Augen kaum vertrauenerweckend aussah. Sein Blick war unstet; er hatte immer die Umgebung abgesucht. Was sie besprochen hatten, wusste sie nicht. Es war ein kurzes Gespräch gewesen, frei von Höflichkeit. Danach hatte ihr Lothlinn zugerufen, sie solle aller Gepäck greifen und ihr zu den Pferden folgen. Gaerwen war ihr gefolgt. Sie wäre ihr auch gefolgt, wenn sie den Grund des Anduin gesucht hätte oder die Ufer der Alten Welt. Solange sie hätte in ihre Augen sehen können. Ärgerlich hatte sie die Grashalme aus ihrem Rucksack geschüttelt. `Was für ein romantischer Mist!´, hatte sie gedacht. Vielleicht bräuchte sie noch einmal einen Sturm auf den Wassern des südlichen Meeres. Salzwasser spülte nach ihrer Erfahrung alles an Romantik weg. Wind war auch gut. So eine Sturmböe mitten ins Gesicht löschte alles, was nicht eingemeißelt war. Dann war Lothlinn an ihr vorbei geschritten, den Sattel für Baraniel über die Schulter geworfen. Naja. Fast alles.

zuletzt bearbeitet 29.12.2010 23:48 | nach oben springen


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