#1

Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:24
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

http://www.youtube.com/watch?v=NRD8zLyJr2I
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Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

- Die Schatten der Vergangenheit -








~ Geschätzter M.,

Vorbereitungen fast abgeschlossen, alles wie besprochen beschafft. Brauche letzte Information über Ort und Bestätigung, dann wird es passieren. Endlich, kann es kaum noch erwarten. Das wird ein großer Tag für uns und ein schwarzer Tag für ihn. Gute Idee das mit G., er hält sich bereit. S. wie gewünscht zum Schweigen gebracht. Töte Du den Boten, Mitwisser brauchen wir nicht, gleichgültig, wer es ist.

W.~





Ich hatte lange auf dieses Dokument gestarrt, das vor mir auf dem dunklen Holz der Tischplatte lag. Wie oft ich es gelesen hatte, wußte ich nicht mehr. Es war mir am Morgen anvertraut worden und meine Hand wanderte zu dem kleinen Lederbeutel, der mit Goldmünzen gefüllt war und in meiner Hosentasche steckte. Ich hatte ihn dafür bekommen, daß ich den Brief zustellte. Aber genau das hatte ich nicht getan. Entgegen meiner Gewohnheiten hatte ich sogar das Siegel gebrochen und ihn gelesen.

Die Kerze, die auf dem Tisch leuchtete, war soweit heruntergebrannt, daß die Flamme beinahe den Halter berührte. Wachs hatte sich in einem kleinen Haufen darum gebildet und klebte auf der Tischplatte. Es kümmerte mich wenig. Zum letzten Mal überflog ich die Zeilen, die vor mir auf dem Pergament geschrieben standen, dann rollte ich das Schriftstück wieder zusammen und legte eine Hand flach darauf. In die andere stützte ich nachdenklich meinen Kopf. Was sollte ich nur tun...
Seit einer Woche überbrachte ich Briefe für einen Mann, der mich in der Taverne „Tänzelndes Pony“ zu Bree angesprochen hatte. Woher er mich kannte, wußte ich nicht, aber da er gut zahlte, spielte das auch keine Rolle. Ich hatte lange Zeit in Bree verbracht, bevor ich weiter gen Osten gezogen war. Viele aus dem Breeland waren ebenfalls weiter gezogen, um neue Abenteuer zu suchen, als der Krieg begann, aber offenbar waren genügend hier geblieben, die immer noch alte Bekanntschaften gepflegt hatten und sich alter Gesichter erinnerten. Meines war wohl eines davon. Vermutlich war jener Herr eines Abends recht unbedarft ins „Pony“ gestolpert. Denn so, wie er gekleidet war, kostbar und edel, hatte er nur wenig mit dem Gesindel und den zwielichtigen Gesellschaften zu tun, mit denen ich einst Umgang gepflegt hatte. Aber manche Bande reißen nicht.
Ich hatte nicht abgelehnt, als er mich um einen Gefallen gebeten hatte. Sein Name war Ward, sagte er. Winston Ward. Und sein Anliegen bestand darin, daß ich zu jeder Morgenstunde einen Brief an einen Bekannten von ihm zu liefern hatte, der den Namen Milo Hafermann trug. Am Abend holte ich die Antwort bei Milo ab und brachte sie zu Ward. Was der Inhalt ihres Briefwechsels war, ging mich nichts an. Meine Aufgabe war nur die pünktliche Lieferung und Abholung – und natürlich die äußerst großzügige Belohnung dafür einzustreichen. Was edle Herren im Allgemeinen miteinander zu bereden hatten, interessierte mich nicht sehr. Und wenn sie wollten, daß es auf verschlungenen Wegen geschah und nicht mit dem Postdienst, so mochten sie ihre Gründe dafür haben.

Doch dieses eine Mal bereute ich meine Arglosigkeit. Und ich bereute, daß Geld mehr als Absichten gezählt hatte, denn ich wußte doch, daß sich die Zeiten wahrhaft geändert hatten. Boshaftigkeit hatte auch in Bree Einzug gehalten und die Dunkelheit war spürbar in allen Ecken und Winkeln. Manches Mal auch in den Gemütern der Menschen.
In Gedanken las ich immer wieder die letzte Zeile der Botschaft: „...und töte auch den Boten! Mitwisser brauchen wir nicht, gleichgültig, wer es ist.“
War ich ein Mitwisser? Ich war es nicht, ich hatte noch nie einen Brief geöffnet, der mir übergeben worden war. Darum genoß ich gerade jenen ausgezeichneten Ruf in den einschlägigen Kreisen der Stadt. Doch dieses eine Mal hatte ich plötzlich ein so ungutes Gefühl gehabt, daß ich nicht widerstehen konnte. Mein Gefühl hatte mich selten getäuscht, so auch diesmal nicht. Das brachte mich nun in eine große Zwickmühle.
Es mochte nur einen richtigen Lösungsweg geben: ich hatte mich an den Bürgermeister von Bree zu wenden und ihm den Brief vorzulegen. Das würde ihm wohl zeigen, daß es in Bree ein Komplott gab. Es würde in seiner Hand liegen, alles weitere zu veranlassen und natürlich auch mich zu schützen: den Boten! Aber würde ich dann nicht erklären müssen, warum ich so lange an diesem Komplott teilgehabt hatte, warum ich mich eingelassen hatte – denn der Umstände wegen hätte ich wissen müssen, daß nichts Gutes dahinter stand. Ja, das hatte ich natürlich auch gewußt. Oder es zumindest geahnt, denn der Bürgermeister hätte Recht: wer seine Briefe auf diesem Wege zustellte, der hatte Ungutes zu verbergen. Ich wollte mich ihm nicht erklären. Ein wenig fürchtete ich auch, daß mich selbst Strafe ereilen könnte.
Dann gab es noch eine zweite Lösung, die falsche: ich würde den Brief wieder versiegeln und abliefern, wie es vereinbart war. Und sollte mir tatsächlich Gefahr drohen, so war ich darauf vorbereitet und würde damit zurechtkommen müssen. Das konnte ein gutes Ende nehmen oder auch nicht. So hatte ich den ganzen Nachmittag damit verbracht, meine Chancen abzuwägen – und der Brief lag immer noch vor mir. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen. Ich war spät dran, wollte ich ihn noch rechtzeitig überbringen. Aber ich war noch immer ratlos.

Konnte es noch eine dritte mögliche Lösung geben?

In jenem Augenblick, als mir dieser Gedanke kam, klopfte es plötzlich an der Türe zu meinem Zimmer und ich schreckte kurz auf. Der Brief fiel mir dabei auf den Schoß. „Ja, herein.“, rief ich etwas überrascht und runzelte die Stirn, als ich zur Türe sah.
Seit ich an der Seite von Herrn Aegmar und Herrn Therowig den Düsterwald verlassen hatte, bewohnte ich eine kleine Kammer im Dachgeschoß des Anwesens von Herrn Aegmar. Grün lag das Breeland mit seinen Wäldern, kleinen Seen und Flüssen um mich herum. In Frieden und Unwissenheit über alles, was sich im Osten ereignete. Das Haus stand auf einer Anhöhe und wenn das Wetter hell und klar war, konnte man von meinem Fenster aus beinahe die Dächer der Stadt Bree erblicken, die einige Meilen entfernt lag.







Es war umgeben von einer kleinen Siedlung, Häuser, Höfe und Ställe. Die Nachbarn waren freundlich und herzlich, sie sprachen über die Ernte, ihre Gärten und den Zustand der Straßen. Hätte ich es nicht besser gewußt und würde ich das Breeland nicht auch von einer anderen Seite kennen, so würde ich beinahe wieder dem Gedanken erliegen, daß dies hier eine Heimat war. Eine Zuflucht, deren Mauern kein Übel überwinden und deren Herz kein giftiger Pfeil durchbohren könnte. Und alle, die hier lebten, waren so bemüht, dieses kleine Stück Land frei von allem Unbill zu halten, daß diese Gedanken beinahe wie eine glückliche Wahrheit erschienen. Ich war froh hier zu sein, das wußte ich. Und ich verspürte meine Anwesenheit kaum als Pflicht. Mein Zimmer war nicht sehr groß, aber es gehörte mir und ich betrat und verließ es nach meinem Gutdünken.
Herr Aegmar hatte seinem Versprechen die Treue gehalten: er vertraute auf Freundschaft und erzwang sie nicht. Und wann immer er im Hause war, so war es mit Wärme und Geselligkeit erfüllt. Stets kam Besuch, stets kamen Freunde. Sein Marschall, sein Verwalter, seine Hauptmänner, Köche, Boten, Geschäftsfreunde. Ich hörte immer Stimmen auf den Treppen und Lachen hinter den Wänden. Der Wind rauschte in den Kronen der Ulmen vor dem Haus und Feuer prasselten in den Kaminen. Es war beruhigend und gut.

Die Tür öffnete sich mit leise quietschenden Angeln. Ich sah Aegmar im Türrahmen und er mußte den Kopf leicht einziehen, um die Kammer zu betreten. Er nickte mir grüßend zu und schloß die Tür behutsam hinter sich. Dann sah er sich neugierig um. „Ich glaube, ich bin zuvor noch nie in Eurem Zimmer gewesen.“, meinte er. Sein Blick heftete sich auf das Regal neben dem Fenster, das sich langsam bog unter der Last von Büchern, die ich ihm aufgebürdet hatte. „Und dabei wärt gerade Ihr mir doch willkommen.“, antwortete ich. Aegmar lächelte mir knapp zu. Aber er war nicht gekommen, um meine Kammer zu besichtigen, das sah ich ihm an, denn er wirkte äußerst ernst. Er trug nicht wie sonst einen langen Wappenrock mit dem Siegel des Hauses, sondern eine dunkle Hose, die weich wirkte, als sei sie aus Wildleder oder einem sehr dichten Wollstoff. Das weiße Leinenhemd dazu stand am Kragen offen und die Ärmel waren bis zum Ellbogen aufgekrempelt. Ich sah die dunklen Härchen auf seinen kräftigen Unterarmen, die Muskeln unter seiner Haut spannten sich kurz an, als er, ohne daß ich ihn dazu aufgefordert hatte, einen Stuhl heranzog und sich mir gegenüber auf die andere Seite des Schreibtisches setzte. Ich legte den Kopf schief.
Nein, er wirkte heute wahrlich nicht, wie ich es gewohnt war, obgleich seine Erscheinung wie immer sauber und erhaben war. Sein Blick traf mich, als er die Arme auf dem Schreibtisch verschränkte und sich mir entgegen beugte. Ich mochte diesen Blick nicht, den er aufsetzte, denn es war jener, unter dem ich mich sogleich schuldig zu fühlen begann – obgleich mir diesmal wahrhaftig nicht einfiel, was sein Mißfallen erregt haben könnte. Trotzdem spürte ich, wie mir gegen meinen Willen Röte in die Wangen stieg und ich den Kopf etwas zurücknahm, um ihm auszuweichen.
Aegmar sah mich nur weiterhin an. Ich hob die Augenbrauen leicht und preßte die Oberschenkel zusammen, damit der Brief, der noch auf meinem Schoß lag, nicht herunterfiel. Er wog plötzlich wie Blei.
„Nariena?“, begann Aegmar. „Ja?“, erwiderte ich zaghaft. Er senkte den Blick, sah auf das geschmolzene Wachs, das sich um den Kerzenhalter türmte. „Ich war heute in der Stadt, ich habe einige Holzbalken für den neuen Stall eingekauft und sie mit Therowig und Herrn Aneawin hergebracht.“, fuhr er fort. Ich nickte. Das erklärte seine Kleidung, aber nicht, warum er hier heraufgekommen war. „Wir waren auch im Gasthaus...im 'Tänzelnden Pony', meine ich.“, schloß er dann an und ich spürte eine leichte Nervosität in mir aufsteigen. „So.“, sagte ich. Bis hierhin war das noch nicht ungewöhnlich, aber als er seinen Blick dann wieder zu mir aufrichtete, wußte ich, daß das gewiß nicht alles war, was er mir noch über seinen Tag zu erzählen gedachte. „Es...ist so, daß mir einige Gerüchte zugetragen wurden. Und, bevor ich darauf etwas gebe oder ihnen auch nur annähernd Glauben schenken möchte, frage ich Euch, ob Ihr mir etwas zu sagen habt, das ich wissen sollte.“
Ich biß mir auf die Unterlippe, der Brief lag nun wie ein Mühlstein auf meinen Beinen. Aegmar hob leicht das Kinn an und rührte mit einem Finger an dem weichen Wachs neben seinem Ellbogen. Meine Gedanken begannen zu kreisen. „Ich....“, begann ich zaghaft, dann schluckte ich und faltete die Hände. „...ich wüßte nicht, was ich Euch sagen sollte, mein Fürst.“, sagte ich dann und schloß für einen Moment die Augen. Wenn dies der Augenblick gewesen war, um eine andere Lösung für meine Lage zu finden, als ich sie bisher erwogen hatte – so hatte ich ihn wohl ungenutzt verstreichen lassen und ich spürte, wie mir plötzlich noch unwohler wurde. Und diesmal lag es nicht an dem Blick aus Aegmars Augen. Er war geduldig, und er war gütig. Er war gut.

Und wahrscheinlich belog ich ihn genau aus diesem Grund.


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

zuletzt bearbeitet 28.09.2012 09:09 | nach oben springen

#2

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:25
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Ich hörte, wie er den Stuhl zurückschob, dann erhob er sich. Er straffte sich und ich sah weg. Auf seinem Gesicht lag ein ungewisser Ausdruck: ein wenig Enttäuschung, ein wenig Unsicherheit und noch etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte. Aber ich war sicher, daß er mir nicht glaubte. Er sah an mir vorbei aus dem Fenster und schien über etwas nachzudenken, dann löste er sich und machte einige Schritte auf die Türe zu. „Ich muß den Händler noch bezahlen, von dem ich das Holz gekauft habe. Ich möchte, daß Ihr mich begleitet. Es ist schon dunkel, und wenn ich mit einem Haufen Gold in den Taschen durch die Nacht reite, schätze ich es, wenn mich jemand begleitet, der ihre Tücken kennt. Nur vorsichtshalber, es sind seltsame Zeiten angebrochen.“, sagte er und legte eine Hand auf die Türklinke, drückte sie aber noch nicht. Ich zog die dunklen Brauen zusammen. „Jetzt?“, erwiderte ich. Aegmar nickte. „Jetzt.“, war seine Antwort. „Warum habt Ihr ihn denn nicht gleich bezahlt?“, fragte ich. „Nun, weil ich noch nicht wußte, wo ich kaufe und ob ich kaufe. Aber ich habe in Schlucht einen guten Händler gefunden, das Holz war zufriedenstellend.“ „Und er vertraut Euch, daß Ihr tatsächlich später zurückkommt, um die Rechnung zu begleichen?“, kaum hatte ich das ausgesprochen, bereute ich es. Aegmar drehte sich abrupt zu mir herum und warf mir nur einen knappen Blick über seine Schulter zu, der wortlos meine Frage beantwortete. Dann drückte er die Klinke und öffnete die Tür. Natürlich vertraute man ihm. Warum sollte man es auch nicht tun. Wahrscheinlich bekam er überall im Breeland klaglos Kredit, ganz gleich, wie hoch und wie lang er ihn haben wollte. Ihm konnte man gewiß vertrauen, er hielt stets sein Wort. Seine Ehre ließ gar nichts anderes zu. Ich schämte mich ein wenig. Aber dann wurde mir bewußt, was es bedeutete, nun mit ihm aufzubrechen. Ich konnte den Brief nicht abliefern, jedenfalls nicht, ohne daß Aegmar es mitbekommen würde. Und just in diesem Moment hatte ich mich dazu entschieden, daß ich es tun würde. Ich überlegte, ob ich noch genügend Zeit hatte, eine Kopie anzufertigen, die einfach den letzten Satz, der mich so besorgte, nicht enthalten würde. Als Aegmar nun aber zu meinem Umhang griff, der neben der Tür an einem Haken hing, ihn abnahm und in unmißverständlicher Geste hinüber auf mein Bett warf, war deutlich, daß ich dafür keine Zeit haben würde. Für eine glaubwürdige Kopie, die kaum einen Unterschied in den Handschriften aufwies, hätte ich mindestens eine Stunde benötigt. Solange würde Aegmar kaum warten. „Ich warte im Hof auf Euch.“, sagte er und dann fiel die Tür hinter ihm zu.
Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht, drehte es gedankenverloren zu einem Zopf und steckte es auf. Das Einzige, daß mir nun an meiner Lage entgegen kam, war der Umstand, daß wir nach Schlucht reiten mußten. Dort wohnte auch Milo Hafermann.

Ich sprang von meinem Stuhl und blies die Kerze aus. Der Brief fiel zu Boden und ich ließ ihn liegen. Ich warf zuerst meinen Umhang über. Aegmar hatte ihn mir wenige Tage nach unserer Ankunft in Bree schneidern lassen. Er war schwarz, hatte aber weder eine Kapuze, noch Innentaschen, in denen ich etwas verbergen konnte. Mittig war auf ihn das Wappen des Hauses gestickt, eine Hand, die eine lange Feder umklammert hielt. Ich schloß die silberne Spange unter dem Kinn und bückte mich erst dann nach dem Brief. Auch nur ohne die Spur von Sorgfalt drückte ich ein wenig Wachs darauf. Sogar ein Narr würde erkennen, daß ich ihn gelesen hatte und das Siegel gebrochen worden war. Ich stopfte ihn hastig in meine Hosentasche. Schlucht lag mindestens zehn Meilen entfernt und wir würden gewiß einige Zeit unterwegs sein, bis wir es erreichten. Selbst zu Pferd. Ich hatte also genügend Zeit, mir wenigstens eine Ausrede einfallen zu lassen, warum der Brief in diesem Zustand war, bevor ich ihn Milo übergab. Ebenso mußte mir noch ein Grund einfallen, warum ich Aegmar später verlassen und überhaupt zu Milo gehen mußte.
Ich seufzte tief, dann verließ ich mein Zimmer und hastete die Treppe hinab.

Aegmar stieg gerade auf sein großes dunkles Roß und nahm die Zügel fest in die Hand, als ich das Haus verließ. Sein Mantel schlug dabei zurück und gab für einen Moment den Blick auf sein Schwert frei, das an seinem Gürtel hing. Ich hob eine Augenbraue, Aegmar war selten bewaffnet, wenn er nicht in Erwartung eines Kampfes auszog. Aber meine Überraschung wurde zerstreut, als mir einer der Stallburschen nun die Zügel meines eigenen Pferdes vor das Gesicht hielt. Ich murmelte ein „Dankeschön“ und stieg in den Sattel. Ich hatte nun ein eigenes Pferd, Aegmar hatte es bezahlt. Ich tätschelte dem Tier den Hals und nickte Aegmar zu, daß ich bereit war, aufzubrechen. Er wendete sein Roß und es trabte sogleich los. Ich folgte ihm, rasch passierten wir das Tor der Siedlung und waren schon bald auf der Oststraße. Die Lichter von Bree schimmerten in der Ferne vor den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Ich hielt mich hinter Aegmar und meine Gedanken an sein Schwert und daran, daß er meine Begleitung erwartete, kamen zurück. Sollte er sich plötzlich vor Räubern fürchten?, fragte ich mich und diese Vorstellung kam mir sonderbar vor. Von seltsamen Zeiten hatte er gesprochen. Aber wann waren die Zeiten nicht seltsam? Sogar für ihn mußten sie es doch bisweilen sein. Ich ermahnte mich, vielleicht hatte ich ihn mißverstanden. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, daß ihn etwas beschäftigte. Etwas, daß ihn sehr beunruhigt haben mochte. Aber ich war nicht Willens, ihm von meinen Botengängen zu berichten, selbst wenn er Gerüchte gehört hatte, daß ich in etwas verstrickt war. Das war nicht seine Sache, es war meine. Und solange er nicht wie ich den Inhalt der Briefe kannte, mußte die Sache für ihn recht harmlos erscheinen.
Sobald ich den Brief in meiner Tasche endlich zugestellt hatte, würde diese Angelegenheit ohnehin erledigt sein. Das hatte ich mir selbst geschworen. Es würde das letzte Mal sein. Ich könnte den Brief einfach unter Milos Türe hindurch schieben und dann sofort verschwinden. Auf die Belohnung, die er mir immer persönlich auszahlte, konnte ich gut verzichten. Er würde mich nicht mehr zu Gesicht bekommen, am allerwenigsten in dieser Nacht.

Ich lächelte ein wenig, mein Plan stimmte mich zufrieden. Und wie ich mich von Herrn Aegmar fortstehlen konnte, um ihn auszuführen, das würde mir gewiß auch noch einfallen.
Ich schloß zu ihm auf und ritt nun neben ihm her. Sein schweres Roß trabte sicheren Schrittes über die Straße und sein silbernes Zaumzeug glänzte ein wenig im Abendlicht. In den Sümpfen, die zu unserer Rechten an die Straße grenzten, zirpten die Zikaden im Gebüsch und die Mücken summten über den Wassern. In der Ferne flog ein Schwarm Gänse über das Marschland und wir hörten sie hell und laut schnattern. Aegmar hob den Kopf und strich sich über den Bart, als ein Kaninchen plötzlich wenige Schritt vor uns über die Straße jagte und irgendwo an den Ufern des Moores wieder verschwand. Ich mußte beinahe schmunzeln, als Aegmar dem kleinen Tier mißtrauisch hinterher blickte.
„Mein Fürst, wüßte ich es nicht besser, würde ich denken, der Hase hätte Euch erschreckt.“, neckte ich. Aegmar drehte den Kopf zu mir. „Erzählt mir einmal, Frau Nariena, wie es früher für Euch gewesen ist mit den bekannten Räubern und Dieben dieser Gegend auf der Lauer zu liegen. War es ein großes Abenteuer?“, fragte er mich und ein scherzhaftes Aufblitzen in seinen hellen Augen war mir unverkennbar. Ich lachte leise und schüttelte dann den Kopf. „Nein, mein Herr, ganz gewiß nicht. Wenn wir auf einen einsamen Reiter gehofft hatten, der ein lohnendes Ziel für einen Überfall abgeben würde, drückte uns doch immer die Sorge im Nacken, daß er äußerst schwer bewaffnet und ein zu guter Kämpfer sein würde. Wir schickten zu unserer Vorsicht daher auch immer ein Kaninchen vor.“ Ich zwinkerte und Aegmar verzog leicht einen Mundwinkel. Nun war er es, den ich lachen hörte und war ein Nachtmahr anwesend gewesen und hatte für einen Moment die Saat von Furcht und Unbehagen zwischen uns gesäht, so hatten wir diesen Geist nun wieder verjagt. Aegmar hieb seinem Pferd leicht die Stiefel in die Flanken und beschleunigte seinen Gang. Ich lächelte noch für einen Moment und seufzte lautlos, dann tat ich es ihm gleich und jagte ihm nach.

Die Straßen von Schlucht waren leer. Das kleine Dorf schien schon mit der aufgekommenen Dämmerung eingeschlafen zu sein. In wenigen Fenstern nur brannten noch Kerzen und man hörte Geschirr klappern hinter den milchigen Glasscheiben und dumpfe Gesprächsfetzen verhalten vor die Tür dringen. Nur das Gasthaus „Schluchtenflechter“ war hell erleuchtet. Die Türe, über der ein durch Wind und Schnee mittlerweile sehr verblichenes Tavernenschild hing, stand weit offen und entließ einen goldenen Lichtschein hinaus auf die Straße. Eine Flöte und eine Laute spielten auf, Kehlen lachten und Münder plapperten. Aegmar hielt vor dem Gasthaus an und stieg vom Pferd. Er band die Zügel des Pferdes lose an dem morschen Treppengeländer fest, das schief an einer alten Holztreppe hing, die hinauf zum ersten Stock des Gebäudes führte, in dem der „Schluchtenflechter“ untergebracht war. Ich vertäute die Zügel meines Pferdes etwas sorgfältiger und mein Blick wanderte die Straße hinauf, an deren Ende das Haus von Milo Hafermann lag. Aegmar wartete auf mich, galant streckte er einen Arm aus und ließ mich voran gehen.
Der Duft von Pfeifenkraut, Stroh und würzigem Bier schlug mir entgegen, als ich das Gasthaus betrat. Ein Hund streifte meine Beine, als jemand einen Knochen an mir vorbei hinaus auf die Straße warf, dem er nachlief. Ich stolperte ein wenig, als sich das Tier an mir vorbeizwängte. Neugierige Blicke hefteten sich auf mich und ich meinte, in dem ein oder anderen Gesicht ein Erkennen aufleuchten zu sehen, so wie auch mir der ein oder andere Gast bekannt vorkam. Ich nickte grüßend und ging in den großen Gastraum hinein. Am Thresen steckten zwei bärtige Herren die Köpfe zusammen und der eine sagte etwas zu dem anderen, während er mich dabei ansah. Als Aegmar hinter mir nun ebenfalls den Raum betrat, dann an mir vorbeiging, meinen Arm streifte und den Blick ernst durch den Raum schweifen ließ, unterbrachen sie sofort das Gespräch, schwiegen und sahen in verschiedene Richtungen.
Aegmar stemmte die Hände in die Hüften, was seinen dunklen Umhang mit dem Wappen darauf, das er so stolz trug, über seine Ellbogen wallen ließ. Dann ging er auf einen Mann zu, der mit einigem Abstand neben den beiden Bärtigen am Thresen saß. Alle neugierigen Blicke ließen nun auf einmal von mir ab, vor allem, als deutlich wurde, daß Herr Aegmar und ich den gleichen Umhang mit dem selben Wappen trugen. Unter wessen Schutz ich heute Abend stand, war damit unmißverständlich gesagt. Ich war ihm dankbar. Und ein wenig war ich auch stolz.
Nichtsdestotrotz wußte ich, daß ich nicht lange hierbleiben konnte. Ich mußte fort. Ich hatte etwas zu erledigen.
Aegmar wurde von einigen der Gästen gegrüßt, er selbst grüßte ebenfalls. Andere nickten ihm nur zu, aber beinahe jeder schien ihn irgendwie zu kennen und niemand war ihm unfreundlich gesonnen. Ich räusperte mich und folgte ihm. Ich war früher oft im „Schluchtenflechter“ gewesen, aber es war ungewohnt, das Gasthaus auf diese Weise zu betreten: offen und beachtet. Für Aegmar war es überhaupt nicht ungewohnt und er schlug dem Mann am Thresen freundschaftlich auf die Schulter, dann reichten sie sich die Hand und Aegmar nahm neben ihm Platz. Ich blieb vorerst stehen, ich überlegte, wie ich mich möglichst rasch mit einem guten Grund entschuldigen und gehen konnte. So bemerkte ich auch erst nach einigen Augenblicken, daß Aegmar mich plötzlich erwartungsvoll anblickte und mir den Platz neben sich anbot. Der Holzhändler sah mich freundlich an und streckte auch mir nun die Hand hin, mit der Frage auf den Lippen, ob „die werte Lady etwas trinken wollte, während er und Herr Aegmar das Geschäftliche besprachen.“ Ich blinzelte, setzte ein Lächeln auf, das zuvorkommend wirkte, wie ich hoffte, schüttelte dann die Hand des Holzhändlers und bedankte mich, aber ich wollte nichts trinken. Er war ein Mann mit grauem Haar und einem faltigen Gesicht, aber forschen blauen Augen, die mir sagten, daß er sehr aufmerksam war und gern einen Blick für das Wesentliche hatte. Er musterte mich und auch Herr Aegmar musterte mich, als ich ablehnte. Sie waren beide enttäuscht, wie mir schien, und ich lächelte abermals, begleitet von einem bedauernden Kopfschütteln. Vielleicht half es anzudeuten, daß der „Schluchtenflechter“ nicht nach meinem Geschmack war – ein guter Grund, warum eine Dame hier nicht zum Trinken verweilen wollte. Daß ich keine Dame war, wußte nur Herr Aegmar, nicht aber der Holzhändler. Er fragte mich auch nicht noch einmal.
Ich wartete noch, bis Aegmar und der Händler, der sich als Herr Winterwoll vorstellte, zwei Krug Bier erhalten hatten und miteinander anstießen – auf gute Geschäfte und dichte Wälder mit prächtigen Stämmen. Schmunzelnd mußte ich feststellen, daß Aegmar ziemlich gut darin war, einnehmendes Geplänkel und diplomatische Schmeichelein zum Besten zu geben, ob er sie nun so meinte oder nicht. So sagte er auch prompt etwas über die Qualität des Holzes, selten habe er je bessere Ware erhalten. Dem Händler war vollkommen bewußt, wie maßlos sein Gegenüber übertrieb, aber es stellte ihn zufrieden und er lachte freundlich. Ich wunderte mich nun nicht mehr, daß wahrlich jeder Herrn Aegmar auf seine Weise zugetan war. Er zählte schließlich einige Goldstücke auf die Theke, doch der Händler gab ihm zwei wieder zurück und winkte zwinkernd ab. Ich schmunzelte und schüttelte abermals den Kopf, doch dann konnte ich nicht länger warten. Ich mußte gehen. Ich spürte wieder wie der Brief in meiner Tasche schwerer und schwerer zu werden begann.

Aegmar nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug und fuhr sich dann mit dem Handrücken über den Mund, ein wenig weißer Schaum hatte sich in seinem Bart verfangen. Nein, mir war kein guter Grund eingefallen, mit dem ich mich nun hätte zurückziehen können. „Ich werde nach den Pferden sehen. Ich bin sicher, sie sind nicht minder durstig als Ihr, mein Herr.“, sagte ich daher nur und bemühte mich, es belanglos und heiter klingen zu lassen. Mir selbst kam es allerdings kläglich und verlogen vor. Aegmar hielt inne, nahm die Hand herunter und tippte mit den Fingerspitzen auf das abgenutzte Holz der Theke. Seine Augen verengten sich leicht, als er mich ansah. Sein Blick huschte über mein Gesicht und ich spürte, daß er darin ein Anzeichen für eine Lüge suchte. Ich hatte in meinem Leben so viel gelogen, daß es mir nicht schwerfiel, daß ich manchmal selbst nicht wußte, ob ich die Wahrheit sagte oder nur etwas, daß ihr nahe kam. Aber Herrn Aegmar zu belügen, war überaus schwer und ich spürte, wie mir das Herz zweimal hart gegen die Rippen schlug. Ich wurde nervös. Sein Blick warnte mich. Aber dann nickte er langsam. „Nun gut, wie Ihr meint. Aber bleibt nicht zu lang fort.“, sagte er und griff abermals nach seinem Krug. Ich deutete einen höflichen Knicks an, dann drehte ich mich um, und zwang mich, nicht aus der Taverne zu laufen, sondern meinen Schritt unauffällig und gemächlich zu halten. Doch kaum hatte ich die Türe durchschritten und den Lichtschein verlassen, den die zahllosen brennenden Kerzen im Inneren des Gasthauses warfen, rannte ich los.
Ich sprang die Stiege hinab auf die Straße und suchte atemlos meinen Weg zu Milo Hafermanns Haus.


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#3

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:25
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Es lag im Dunkel. Irgendwo brannte darin ein Kaminfeuer, denn ein verhaltenes rötliches Licht flackerte ab und an gegen die Scheiben. Immer dann, wenn eine Tür geöffnet oder geschlossen wurde und jemand von Raum zu Raum ging. Ich atmete tief durch. Meine Hand suchte den Brief in meiner Hosentasche, er war zerknittert und ich versuchte, ihn ein wenig glattzustreichen. Ihn fest umklammernd trat ich dann vor die schwere Haustüre. Sie wirkte fest verschlossen und ich lauschte, sah mich um. Die Straße hinter mir war immer noch leer. Langsam ging ich in die Hocke, tastete mit den Fingerspitzen den unteren Rand der Türe ab, suchte einen Schlitz, der breit genug war, um die Botschaft hindurch zu schieben. Ich fand ihn. Der Brief glitt auf die andere Seite der Türe und ich schloß erleichtert die Augen. Im Haus war es immer noch still und ich erhob mich, wollte mich umdrehen. Dann plötzlich erreichten Stimmen die Türe. Ich machte mich bereit, davon zu laufen und in die Nacht zu verschwinden, doch etwas hielt mich zurück. Es war eine der Stimmen. Ich erstarrte. Aegmar? War mein Herr Aegmar in diesem Haus? Die Stimme klang wie die seine, tief, aber weich. Entgegen meiner Vernunft, meiner Instinkte und den Rat meines hämmernden Herzens blieb ich stehen und legte ein Ohr gegen die Türe. Nein, es war nicht Herrn Aegmars Stimme, aber sie ähnelte ihr so sehr, daß ich stutzte. Ich zuckte die Schultern, dann wollte ich mich erneut umdrehen, um zu gehen – aber ich wurde wieder aufgehalten. Diesmal war es nicht der Klang der Stimme, der mich bannte, sondern das, was sie sagte. Die Worte drangen dumpf durch das Holz an mein Ohr: „Er wird sterben, so oder so, Milo. Sei doch kein Feigling. Du hast mehr Gold bekommen, als du jemals ausgeben kannst. Ich verstehe nicht, warum du noch mehr willst. Dein Risiko ist gestiegen...was soll das denn überhaupt heißen? Denkst du auch mal an mein Risiko? Er ist nicht irgend ein Bauer, er geht mit dem Schwert besser um als du, Hank und Gisbert zusammen. Also hör mir auf mit Risiko. Wenn jemand bei dieser Sache etwas zu verlieren hat, dann ich.“ Ich schluckte. Dann ertönte die Stimme von Milo Hafermann: „Jaja, ich weiß ja. Aber...am Anfang hieß es, wir wollen die Edelleute nur auf unsere Seite bringen. Dann sagtest du, es reicht, wenn sie schweigen und nicht im Weg sind. Und jetzt willst du einen von ihnen umbringen!“ Er klang angsterfüllt, beinahe schrill. Die andere Stimme sprach wieder: „Das ist etwas Persönliches zwischen ihm und mir, also sei doch froh, wenn es auch deiner Sache dient, Milo.“ Dann schwiegen beide.
Ich schluckte erneut und nahm den Kopf wieder zurück. Das Blut rauschte in meinen Ohren und die Nacht vor meinen Augen schien sich noch weiter zu verfinstern. Daß es ein Komplott in Bree gab, war mir bewußt gewesen, nachdem ich den Brief gelesen hatte. Gegen wen genau es sich richtete, wußte ich nicht. Ich wußte es auch jetzt noch nicht, doch deutlich war, daß Milo, Ward und dieser Fremde, der mich so an meinen Fürsten erinnerte, einen Mord planten. Gegen einen der Edelmänner, die im Breeland lebten. Bei Elendil, wahrlich war ich in eine schlimme Angelegenheit geraten. Schlimmer, als ich es erahnt hatte und ich fühlte ganz deutlich eines in meiner Seele brennen: Reue. Zutiefst empfundene Reue. Ich wollte nicht dazu beigetragen haben, daß jemand sterben mußte. Wild drehten sich die Gedanken in meinem Kopf. Morgen früh, sobald es hell wurde, mußte ich nach Bree. Ich kam nicht mehr umhin, dem Bürgermeister Bericht zu erstatten. Der Stadtwache, der Miliz. Ganz gleich, wem. Irgendjemand mußte es wissen. Irgendjemand mußte etwas unternehmen!
Vielleicht sollte ich gleich in Schlucht bleiben, Herrn Aegmar überreden, daß ich mir ein Zimmer im „Schluchtenflechter“ nehmen müsse. Vortäuschen, daß ich nicht wohlauf war und nicht mehr reiten konnte, dann wäre ich schneller in Bree und....! Meine Gedanken wurden plötzlich jäh unterbrochen. Ich fuhr herum. Die Tür hatte sich geöffnet und ich stand noch mitten auf der Türschwelle. Ich blickte in das Gesicht eines großen, breitschultrigen Mannes mit langem, braunem Haar. Hinter ihm erblickte ich Milo Hafermann, er trug eine lächerliche Robe, die violett glänzte und seinen Bauch noch runder erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Er schrie erschrocken auf, als er mich vor seiner Türe sehen sah. Dieser Laut riß mich endgültig aus meiner Erstarrung. Der Mann, der immer noch den Türknauf umklammert hielt, zischte wütend. In der anderen Hand hielt er den Brief. Gleichzeitig sahen er und ich auf das Schriftstück und ich war sicher, daß wir auch gleichzeitig nun dasselbe dachten: „...töte den Boten!“

Innerhalb eines einzigen Atemzuges drehte ich mich herum und sprang die kleine Stufe vor der Türschwelle hinab auf den Weg, der zum Haus führte. Ich rannte ihn hinunter, so schnell ich nur konnte, kletterte über die kleine Pforte im Zaun, der das Anwesen begrenzte und wollte dann die Straße hinunterlaufen – doch ich bekam plötzlich keine Luft mehr. Mein Umhang schnürte sich fest an meiner Kehle zusammen und schnitt mir tief in die Haut. Ich drehte den Kopf leicht und sah aus dem Augenwinkel, daß der Fremde, der unheimliche Gast in Milo Hafermanns Haus, mir nachgesetzt und mich am Stoff des Umhangs zu fassen bekommen hatte, gerade, als ich über das Gartentor gesprungen war. Ich sah, wie sich seine Hand nach mir ausstreckte, um mich an Arm oder Schulter zu packen, griff rasch an meinen Hals und löste die Spange, die den Umhang dort zusammenhielt. Sie schnappte auf, der Stoff löste sich, ich bekam wieder Luft. Ich duckte mich, wich zur Seite aus. Die Hand griff ins Leere, nur den Umhang behielt sie zurück und ich lief auf die Straße.
Schlucht war nicht groß, aber es besaß doch einige verwinkelte Gassen, in denen man jemanden verlieren konnte. Auch war der Chetwald nicht fern, diesen suchte jedoch bei Nacht niemand als Zuflucht auf, der noch bei Verstand war. So blieb mir nur, meinen Verfolger irgendwo im Dorf loszuwerden und mich gut zu verstecken. Auch Milo Hafermann trat jetzt hinaus auf die Straße. Fluchend rannte ich los, bog um die nächste Hausecke und jagte durch einen schmalen Durchlaß. Ich hörte den Fremden hinter mir keuchen, seine Stiefel hallten auf dem Pflaster wider, warfen ein Echo an die Hauswände. Ich griff neben mir in ein Blumengitter, das an einer Hauswand emporragte und setzte einen Fuß hinein. Ich zog mich hoch und war mit einem Satz auf dem Dach. Die Ziegel waren locker und ich mußte all meine Konzentration aufwenden, um schnell voran zu kommen und dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Mein Verfolger war im Klettern weniger geübt, er rutschte auf einem losen Ziegel aus und schlug hin. Es polterte. Er war für derlei Pfade zu groß und zu schwer. Ich überquerte das Dach, während er laut fluchte. Die Worte, die er für mich fand, waren nicht sonderlich höflich. Eine Distanz zwischen ihn und mich zu bringen waren meine einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen, und so stolperte ich weiter. Auf der anderen Seite des Giebels hielt ich kurz inne und schätzte die Entfernung zum Boden ab, es mochten vier oder fünf Schritt sein. Mein Verfolger rappelte sich mühsam wieder auf. Ich hatte keine Wahl, ich sprang. Mit Mühe biß ich die Zähne aufeinander, als meine Füße wieder auf dem Straßenpflaster landeten und ein schmerzhafter Stich mein Bein durchfuhr. Aber ich konnte stehen, ich hatte mir nichts verstaucht oder gebrochen. Also konnte ich auch laufen. Und das tat ich.
Die Gestalt des Fremden ragte hinter mir am Rand des Daches auf, er reckte wütend eine Faust in die Höhe, aber er wagte den Sprung nicht. Von dort oben konnte er mich aber gewiß gut im Auge behalten und verfolgte meinen Weg mit zornigen Blicken. Ich schlug einen Haken und wandte mich nach Norden. Ich wollte den Eindruck erwecken, als sei ich doch närrisch genug, in den Chetwald zu fliehen. Ich achtete sogar darauf, daß er mich sah, als ich die Hauptstraße entlang lief. Immer weiter nach Norden. Erst als ich sicher war, daß er aber am Rand des Dorfes meine Spur verloren hatte und die Straßenlaternen mich nicht mehr erfaßt hatten, blieb ich stehen, atmete tief durch und ließ zu, daß mein Körper zu zittern begann und mein Herz sich wie ein eisiger Knoten zusammenzog.
Langsam änderte ich wieder die Richtung, kletterte über eine Gartenmauer und ließ mich hinter einem Stapel leerer Gemüsekisten auf die Knie fallen, die unachtsam einfach an einer Hauswand aufgestapelt waren. Ich vergrub den Kopf in den Händen. Mir graute. Und das Gefühl überwältigte mich, daß ich die Dinge nicht mehr alleine zu Ende bringen konnte.

Eine Weile saß ich noch so dort, zusammengesunken. Meine Beine rieten mir, weiter zu laufen. Fort aus Schlucht, fort aus dem Breeland. So, wie ich irgendwann immer jene Orte verließ, an denen ich mir Ärger eingehandelt hatte. Was kümmerte mich das Schicksal von anderen...es nahm ohnehin seinen Lauf, ob ich nun etwas daran zu ändern versuchte oder nicht. Aber hatte ich es je wirklich versucht? Nein, ich hatte ja auch nie einen Grund dazu gehabt. Aber diesmal hatte ich einen. Und er tauchte ganz deutlich hinter meinen Lidern auf, als ich die Augen schloß. Dieser Grund trug Herrn Aegmars Gesicht, er war auch ein großes Haus außerhalb von Bree, in dem es ein kleines Dachzimmer gab, das auf mich wartete. Er hatte die Stimme von Herrn Therowig und den Klang seiner Schwerter, wenn er sich auf dem Hof vor dem Haus im Kampf übte. Er blitzte wie die Rüstung von Hauptmann Aneawin, der so oft im Hause zu Besuch war und immer zahlreiche Geschichten mitbrachte. Er war der Duft würzigen Abendessens und süßen Weines, den ich abends am Kaminfeuer trank. Er war die Stimmen aller, die hier unter der schützenden Hand von Herrn Aegmar lebten. Er war das, was mein Zuhause geworden war.

Als ich ganz sicher war, daß weder Milo Hafermann, noch der Fremde in den Gassen auf mich lauerten, erhob ich mich und ging auf einigen Umwegen zurück zum Gasthaus „Schluchtenflechter“. Ich war lange fort gewesen, zu lange. Und wenn Aegmar vor die Türe getreten war, dann hatte er längst gesehen, daß ich nicht bei den Pferden war. Sie standen beide noch angebunden vor der Taverne. Langsam stieg ich die Stufen hinauf. Meine Wangen glühten noch immer leicht, das hochgesteckte Haar hing mir in wirren schwarzen Strähnen ins Gesicht. Hastig strich ich es zurück, versuchte die Locken wieder in einem Knoten zu bändigen, der nicht davon erzählte, was ich soeben erlebt hatte. Ich strich meine Hose glatt, mein Wams. Ich wollte meinen Umhang richten, ihn zurecht zupfen – und neues Grauen erfaßte mich. Er war fort! Auf dem Absatz fuhr ich herum und starrte mit geweiteten Augen in die Nacht, hinüber zu Milo Hafermanns Haus. „Elendil, hilf!“, raunte ich bekümmert. Aber er half nicht. Ich hatte keine Möglichkeit, den Umhang zurückzubekommen. Milo hatte ihn. Und er hatte das Wappen darauf. Er wußte nun, wer ich geworden war. Und welchem Haus ich angehörte. Es war fortan nicht mehr sicher.
Verzweiflung packte mich und abermals machte ich kehrt, wandte mich wieder der Taverne zu, deren Tür immer noch offen stand. Ich hörte wieder das Gelächter, das fröhliche Plaudern, die Musik. Der wohlige Lichtschein der Kerzen fiel auf mein Gesicht. Ich stürmte hinein.
Der „Schluchtenflechter“ hatte nun mehr Gäste als zuvor, Pfeifenrauch hing wie Nebel in der Luft, sammelte sich in Schwaden unter der Holzdecke und hüllte die Anwesenden wie ein silberner Mantel ein. Das Bier zischte aus dem Hahn und rann durstige Kehlen hinab. Ich bahnte mir meinen Weg zwischen einem Mann und einer stark geschminkten Dame hindurch, die mich mißbilligend anblickte, als wolle ich ihr das Abendgeschäft streitig machen. Ich stieß mit einem anderen Gast zusammen, entschuldigte mich hastig, als er dabei etwas aus seinem Krug verschüttete. Ich konnte nicht viel sehen, aber ich wußte, wo der Thresen war. Ich konnte nur hoffen, daß Aegmar noch dort war. Je näher ich ihm kam, desto mehr Gäste standen mir dicht gedrängt im Weg. Sie brüllten Bestellungen, sie machten Scherze über die Schankmädchen. Die meisten von ihnen waren Holzfäller, groß und breit. Ich stellte mich einmal auf die Zehenspitzen, aber entkam nur um Haaresbreite einer Schulter, die sich beinahe in mein Kinn gerammt hätte. Also zog ich den Kopf ein, duckte mich und schlängelte mich unter Krügen, Achseln und Bäuchen hindurch.
Dann endlich erreichte ich den Thresen. Aegmar saß noch dort auf einem der Hocker, wo ich ihn verlassen hatte. Ich atmete erleichtert aus. Er prostete jemandem zu und nahm dann einen tiefen Zug aus einem überschäumenden Krug. Er war bester Laune, lachte und sagte dann etwas, das alle, die um ihn herumstanden, sehr belustigte. Ich schob mich an ihn heran und er lächelte breit, als er mich entdeckte. Er streckte einen Arm nach mir aus, aber ich griff nicht nach seiner Hand, die mich an seine Seite ziehen wollte. Ich packte ihn mit beiden Händen am Oberarm und starrte ihn eindringlich an, so daß er den Krug abstellte und überrascht zurückblickte. Eine Strähne meines Haares löste sich in diesem Moment und fiel mir in die Stirn. Er betrachtete es mit Erstaunen, dann zogen sich seine dunklen Brauen zusammen und sein Blick glitt an mir herab. „Wo ist Euer Umhang?“, fragte er. Er war angeheitert, seine Stimme nicht mehr klar, aber der Blick seiner Augen wurde es auf der Stelle. „Wir müssen sofort gehen!“, sagte ich nur atemlos. Ich spürte, wie er den Arm hob und sich seine Hand auf meine Seite legte. „Was ist denn nur los?“, fragte er, immer noch an mir nach einer Erklärung für mein Erscheinen und mein Auftreten suchend. „Bitte! Wir müssen auf der Stelle nach Hause!“, sagte ich noch einmal, diesmal lauter und eindringlicher. „Hm.“, machte Aegmar und seine Augen suchten meine. Dann sah er in die Runde von Männern, die offenbar seine Gäste waren. Auch Herr Winterwoll weilte noch unter ihnen und beäugte mich nun neugierig und mit einem freundlichen Lächeln.
„Ja, wollt Ihr uns die junge Dame denn nicht vorstellen, Sir?“, fragte einer von ihnen. Ich holte tief Luft. Ich ließ Aegmars Arm los, griff nach seiner Hand, die auf meiner Seite lag und schloß sie zwischen meinen Händen ein, sie fest drückend. „Hört Ihr denn nicht? Sofort! Bitte!“
Endlich rührte Aegmar sich. „Na schön.“, stimmte er widerwillig zu, dann wandte er sich an seine Gesellschaft. „Ich stelle sie Euch ein andermal vor, meine Herren, die junge Dame möchte jetzt nach Hause. Ich darf mich vorzüglich bedanken und mich für heute empfehlen. Winterwoll, ich komme bald auf Euch zurück, gehabt Euch wohl bis dahin und bewahrt mir ein paar Eurer besten Stämme auf!“
Er erhob sich etwas umständlich von seinem Hocker, zählte einige Münzen auf den Thresen und deutete dann eine Verbeugung an. Die Männer prosteten ihm zu, versicherten ihr Bedauern über unseren Aufbruch und sahen uns dann nachdenklich nach, als ich mich bemühte, Aegmar so schnell wie möglich aus dem Gasthaus zu schieben. Sein Gang war nicht sehr aufrecht und ich mutmaßte, daß er einige Krüge geleert hatte. Aber wie hätte er auch ahnen sollen, daß dieser Abend ein ungutes Ende nehmen könnte – ich hatte es ihm ja verschwiegen.

Als die Nachtluft uns empfing, schien sein Kopf wieder etwas klarer zu werden. Ich lief die Stufen hinab und Aegmar folgte einigermaßen zügig. Er hielt sich am Geländer fest und seufzte einmal tief, als er endlich neben mir stand und in das Zaumzeug seines Pferdes griff. Ungeduldig packte ich den Sattelknauf meiner Stute und wollte mich in den Sattel ziehen. „Sagt mir, was geschehen ist. Ist Euch jemand zu nahe getreten? Hattet Ihr Streit?“, fragte Aegmar unvermittelt. Aber ich wollte jetzt keine Fragen beantworten, ich wollte fort. Ich nahm die Zügel in die Hand. Ich ignorierte den besorgten Unterton in seiner Stimme. Das Pferd tänzelte nervös unter mir, als spürte es meine eigene Aufregung. Endlos schien es zu dauern, bis auch Aegmar endlich schwerfällig im Sattel saß. „Wollt Ihr es mir nicht sagen?“, begann er noch einmal. „Ich werde Euch sogar alles sagen. Aber nicht jetzt. Daheim. Und je eher wir dort sind, desto besser.“, erwiderte ich heiser und sah, wie er nickte.
Ich trat meiner Stute so heftig in die Flanken, daß das arme Tier aufwieherte und einen Satz nach vorne machte. Es preschte los. Und Aegmar folgte mir. Schweigend und finster zog das Breeland an uns vorbei.


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#4

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:26
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Über den Wetterbergen begann der Himmel zu leuchten und Wind kam auf, der die Blätter in den Baumkronen der Ulmen vor dem Haus rauschen ließ. Ein Gewitter zog heran. Und als ich endlich aus dem Sattel sprang und das Pferd hastig zum Stall hinüber zog, spürte ich die ersten Regentropfen auf meinem Handrücken.
Die Stalltüre knarrte und schlug immer wieder zu, es gelang mir nicht, sie zu öffnen. Aegmars Arm griff schließlich an mir vorbei, streifte meine Schulter und hielt das schwere Holz der Tür zurück. Ich ging an ihm vorbei und nahm eine Öllampe vom Haken an der Stallwand. Sie flackerte und scheuchte einen der Stalljungen auf, der sich auf dem Strohspeicher unter dem Dach bereits schlafen gelegt hatte. Mit müden Augen kletterte er die Leiter hinunter und nahm mir dann mein Pferd ab. Er verbeugte sich knapp vor Herrn Aegmar, in der Ferne erklang verhalten der erste Donnerschlag. Es wurde kühler und ich fröstelte, aber mein Inneres schien in Flammen zu stehen und Hitze brannte auf meinem Gesicht. Ich wollte den Stall verlassen und hinüber zum Haus gehen, aber Aegmar stellte sich mir in den Weg. „Können wir jetzt reden?“, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Im Halbdunkel ragte er vor mir auf, mit dem Rücken zur Türe gewandt. Ich seufzte lautlos. Ich wollte an ihm vorbei gehen und machte einen Schritt nach rechts, aber wieder stellte er sich mir in den Weg. „Sir!“, rief ich aus, sah zu ihm auf und ich wußte, daß mein Blick mehr als eindringlich war. Aegmar bewegte sich nicht. Ich machte einen Schritt nach links, abermals kam er mir zuvor. Ich hob die Hände, ich wollte ihn packen und einfach beiseite schieben, aber mein Ringen war wohl mehr eine verzweifelte Geste ohne Kraft und ich mußte es geschehen lassen, daß er nach meinen Handgelenken griff und mich zwang, stehen zu bleiben.

Ich funkelte ihn an. Er funkelte zurück.

„Bei allem was mir heilig ist, denkt Ihr nicht, daß nun der Zeitpunkt gekommen ist, Euch zu erklären? Ich werde Euch nicht noch einmal fragen, Miss Nariena!“ Seine Worte waren deutlich. „Der Zeitpunkt, mich zu erklären, ist längst verstrichen. Ich kann Euch jetzt nur noch warnen.“, gab ich zurück. Ich unternahm einen letzten Versuch, an ihm vorbeizukommen, aber ich bekam meine Hände nicht frei. Zu fest war sein Griff. Er bog meine Arme leicht auseinander und sah nun direkt in mein Gesicht hinab. Er war nicht zornig, aber entschlossen. „Warnen wovor? Sprecht, bei Elendil!“
Ich gab nach. Es war dunkel im Stall, nur die Öllampe flackerte und der Stalljunge war damit beschäftigt, die Pferde abzusatteln und sie abzureiben nach unserem schnellen Ritt. Ich hörte ihn am hinteren Ende des Stalles arbeiten, die Pferde schnauften leise.
Ich verlagerte mein Gewicht auf einen Fuß und ließ den Kopf hängen. Und dann erzählte ich Aegmar von den Briefen. Von Ward Winston. Von Milo Hafermann und dem Fremden, der mich so an ihn erinnert hatte – und der nun meinen Umhang besaß. Ich erzählte Aegmar auch, daß er selbst oder irgendjemand in diesem Bunde gewiß das Wappen auf dem Umhang erkennen würde und daß ich damit rechnete, daß sie hierher kamen. Der Bote mußte sterben. Und getötet hatten sie mich nicht. Noch nicht.
Aegmar hörte mir ruhig zu, irgendwann ließ er mich los und verschränkte wieder die Arme. Ich sagte ihm noch etwas. Ich sagte ihm, daß mir das alles unendlich leid tat. Und das tat es wirklich.
Er schwieg. Er sagte gar nichts.

Der Wind wurde nun stärker und ließ die Stalltüren gegeneinander schlagen. Hinter einer Ritze in der Holzwand sah ich für einen Wimpernschlag den Hof in einem hellen Lichtblitz aufleuchten, dann war es wieder dunkel. Aegmar löste sich endlich und ging an mir vorbei. Er blieb vor einem der Pferde stehen, strich ihm kurz über den Kopf und zog sich dann einen Schemel heran und setzte sich. Abermals tauchte ein Blitz den Stall für einen winzigen Moment in strahlendes Licht, bevor er ihn wieder dem Schatten überließ.
Aegmar stützte die Ellbogen auf die Knie und fuhr sich über das Gesicht, dann sank ihm das Kinn auf die Brust und er starrte auf seine Stiefel. Ich atmete tief aus und ich mußte trocken schlucken, bevor ich den Mut fand, zu ihm zu treten. Ich setzte mich neben ihn auf den strohbedeckten Boden und sah zu ihm auf. „Es tut mir wirklich leid.“, flüsterte ich abermals. Er schüttelte den Kopf, dann strich er sich über den Nacken und sein Blick fand endlich wieder den Weg in mein Gesicht. „Als ich Euch aufsuchte, um Euch zu fragen, ob Ihr mir etwas sagen wollt...oder könnt....über einige Gerüchte, die in Bree umgehen...habe ich damit nicht gemeint, daß Ihr in Schwierigkeiten stecken könntet und mir das dringend zu beichten habt. Aber vermutlich habt Ihr es so verstanden, und das war wohl mein Fehler.“, sagte er schließlich. Es klang leise, dumpf. Ich zog überrascht die Brauen hoch. Ja, ich hatte es so verstanden, denn es war auch überaus wahrscheinlich gewesen. „Ihr habt es nicht so gemeint?“, fragte ich erstaunt nach. Aegmar schüttelte abermals den Kopf und ließ ihn wieder sinken. „Nein. Ich dachte....wenn jemand weiß, was in den Gassen von Bree geflüstert und was in seinen Winkeln und Hinterzimmern besprochen wird, dann seid Ihr das. Jene Gerüchte...sie betrafen mich selbst.“ Ich zog die Brauen nun zusammen. „Was meint Ihr, mein Herr?“ Aegmar schürzte kurz die Lippen. „Ein Freund hat mir davon berichtet, daß sich einige Händler gegen die neuen Handelssteuern auflehnen, Zartlärche hat sich damit äußerst unbeliebt gemacht. Ich will sagen, er hat sich sogar Feinde geschaffen. Wenn er sich und die Stadt gegen den aufziehenden Krieg zur Verteidigung rüsten will, gibt es andere Quellen, aus denen er dafür Gold hätte schöpfen können. Die Handelsgilde interessiert Krieg wenig. Und in Bree verschließt man zudem gerne die Augen vor Gefahren. Es gibt wenige, die reich sind. Die meisten sind arm, Bauern und Landbesteller. In Bree sitzt man Bedrohungen aus, das hat die Stadt schon früher gerettet. Aber wie dem auch sei...es wird gemunkelt, daß die Gilde gerne einen anderen als Bürgermeister sehen würde, einen aus ihren Reihen: Milo Hafermann. Und wer ihm dabei im Weg steht ist vor allem die Miliz und einige Edelleute, die nicht mit Gold von ihrem Eid der Treue abzubringen sind.Und...es ist möglich, daß ein paar unter diesen zu befürchten haben, daß man sie daher auf andere Art zum Schweigen bringen wird. Unter anderem...mich selbst.“ Er hob den Kopf. „Mir wurde gesagt, daß man mir an den Kragen will, um es so auszudrücken, Miss Nariena. Und zwar bald.“ Ich sog hart die Luft ein, doch sie stockte sofort in meinen Lungen und ich spürte einen schmerzhaften Stich in meinem Magen. Er durchfuhr mich wie der Blitz, der wieder den Himmel über uns erleuchtete und sein Strahlen für einen Augenblick in den Stall dringen ließ. „Bei Elendil...“, war alles, was ich sagen konnte.
Meine Stimme gehorchte mir nicht, meine Gedanken kreisten und ich rang um meine Fassung, als mir bewußt wurde, was ich nun also tatsächlich an diesem Abend erfahren hatte. In welchen Zusammenhang es sich reihte und welche Gestalt mein Tun nun annahm: ich hatte Briefe überbracht, in denen der Tod meines eigenen Fürsten besprochen und geplant worden war.

Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, die andere fand zitternd einen Strohhalm auf dem Boden und zerknickte ihn wütend. Aegmar sprach aus, was ich dachte: „Daß die Gerüchte stimmen, habt Ihr also nun bewiesen. Ihr habt Hafermann belauscht und da er gewiß mein Wappen kennt, daß Ihr ihm unglücklicherweise überlassen mußtet...kann er sich nun ausrechnen, daß Ihr mich gewarnt habt und ich alles weiß, was Ihr wißt.“ Er machte eine Pause. „Das weiß ich doch, oder?“ Er runzelte die Stirn und sah mich forschend an. Ich zog die Hand von meinem Mund und wartete einen Augenblick, bis sie nicht mehr zitterte und auch meine Lippen es nicht mehr taten. „Ja, ich habe Euch alles gesagt.“, beeilte ich mich zu antworten. „Herr Aegmar, als Ihr mich aufgesucht habt am Abend und als ich dann erfuhr, welch Dinge sich in Bree zusammenbrauen...ich habe beinahe schon befürchtet, daß Ihr glaubt, daß ich an diesen Plänen beteiligt bin. Daß Ihr vielleicht sogar meint, ich sei derjenige, der...“, ich brach ab. Wieder sprach er für mich: „...der in dunkler Nacht einen Dolch zwischen die Schulterblätter eines unbeugsamen Barons stößt?“ Seine Stimme klang rau. „Und – würdet Ihr?“, fragte er dann. Mein Kopf fuhr erschrocken hoch. „Ich würde Euch für 1000 Goldstücke nichts antun!“, protestierte ich empört. Ich wollte mich aufsetzen und ihn schelten und zurechtweisen, wie er nur so etwas denken könnte, aber dann sah ich im kurzen Aufflackern eines weiteren Blitzes ein bitteres Schmunzeln auf seinem Gesicht und beruhigte mich ein wenig. „Für 1500 vielleicht?“, meinte er und ich hörte nun deutlicher den Unterton in seiner Stimme, der verriet, daß er diesen Verdacht nicht ernst meinte. Oder zumindest nicht vollkommen davon überzeugt war, ganz sicher konnte ich nicht sein. „Für 2000 vielleicht.“, gab ich zurück und sah dennoch ein wenig beleidigt drein. Aegmar lachte leise. Dann atmete er tief durch und schlug sich auf die Schenkel. Er erhob sich langsam. „Nun.“, sagte er, streckte sich leicht und trat um mich herum. Er öffnete die Stalltüre und sah hinaus in die Nacht. Es regnete leicht, Wolken jagten rasch über den Himmel und verdeckten die Sterne. Der Wind blies ihm das halblange braune Haar in die Schläfen und er strich es zur Seite. „Dann wird es eine lange Nacht. Ich brauche noch ein Bier.“

Ich kam auf die Füße und schloß zu ihm auf. Ich sah ebenfalls hinaus in die Dunkelheit und hinüber zu dem warmen Licht, das in den Fenstern des großen Hauses auf der anderen Seite des Hofes brannte. Ich konnte Aegmar nicht ansehen, was er jetzt dachte, aber ich hätte es gerne getan.
„Nichts könnte mich dazu bewegen, mich gegen Euch zu stellen, Aegmar.“, sagte ich. Und ich hatte noch nie etwas so ehrlich gemeint. Er wandte mir den Kopf zu und seine hellen Augen ruhten still auf mir. Er betrachete mich, dann lächelte er und ich spürte, wie er meine Hand nahm.
Dann lief er unvermittelt los und zog mich mit sich zum Haus. Der Regen prasselte auf uns und unsere Stiefel klatschten in den Pfützen und dem Matsch, der sich langsam auf dem Hof sammelte.

Aegmar stieß mit der Schulter die Haustüre auf und schob mich sachte in den kleinen Flur dahinter. Ich löste mein Haar, es war feucht vom Regen und wir säuberten uns grob die Stiefel auf dem Teppich, was dem Hausmädchen gewiß keineswegs gefallen würde, aber weit mehr mißfiele es ihr sicher, wenn wir naß und verschmutzt in die Halle gegangen wären.
Aegmar hängte seinen Umhang noch an einen der Haken an der Wand, seinen Schwertgurt behielt er um die Hüfte und legte ihn nicht ab. Es war ein seltsamer Anblick, ihn bewaffnet im Haus zu sehen und auch die Köchin Magda, der wir begegneten, als wir weiter in die Halle gingen, sah ihren Hausherren erstaunt an.
Magda trug ein Tablett vor sich her, das leicht auf ihrem runden Bauch aufsetzte und das voll mit benutztem Geschirr und Kelchen war. Wir hörten ein Kichern in der Halle, es war fröhlich und erhellte für einen Moment unsere Gedanken. Aegmar schritt voran, auf den großen gemauerten Kamin zu, der im Raum brannte und in dem stets ein warmes Feuer knisterte. Er blieb stehen, als das Hausmädchen von einem der Stühle vor dem Kamin aufsprang, mit hochrotem Kopf einen Knicks andeutete, dann noch einmal kicherte und an uns vorbei sauste. Sie nahm im Laufen noch einige Teller mit, die auf der großen Tafel standen, welche den Raum teilte, und lief dann Magda hinterher, in Richtung der Küche.
Noch jemand war anwesend: Herr Therowig, der sich nun mit einem leisen Räuspern von einem anderen Stuhl erhob und sich in erhabener Geste das Wams glattstrich. Zumindest hätte es erhaben gewirkt, wenn dabei nicht so ein Grinsen auf seinen Mundwinkeln gelegen hätte. Einen flüchtigen Blick sandte er dem Hausmädchen noch nach, dann legte er ihn auf Herrn Aegmar und mich und sein Lächeln wandelte sich in Überraschung. Unser Haar hing in nassen Strähnen, unsere Kleider waren beschmutzt – aber am Meisten verblüffte ihn vermutlich unser Gesichtsausdruck. Der von Herrn Aegmar war sehr ernst, der meine war bestürzt. Und erst jetzt wagte Aegmar es, den Schwertgurt zu lösen.
Er schüttelte kurz den Kopf und ein Blick jagte zwischen ihm und Therowig hin und her, in dem es wohl einerseits um die Magd ging, aber vor allem darum, daß sie nun wohl etwas zu bereden hatten. „Therowig, bitte wecke Aneawin auf. Und sieh zu, daß ein Bote Herrn Maethruth und andere Gefährten ausfindig macht, die in der Nähe verweilen und nicht ausgezogen sind. Ich brauche meine Offiziere, auf der Stelle. Ich muß den Rat einberufen, und zwar jetzt.“, sagte er und Therowig fragte nicht nach. Er lächelte mir zu und hob grüßend die Hand, dann verließ er die Halle.
Aegmar seufzte und drehte sich langsam zu mir herum. „Frau Nariena, ich möchte, daß Ihr hinauf auf Euer Zimmer geht. Zieht Euch um, ich möchte nicht, daß Ihr Euch eine Lungenentzündug holt.“, meinte er. „Aber, ich....“, erwiderte ich. Er brachte mich sofort mit einer Geste seiner Hand zum Schweigen. Er fürchtete keineswegs, das mir der Regen eine Erkältung bescherte, es hatte schließlich gewiß schon schlimmere Unwetter gegeben – er wollte mich einfach nicht dabei haben. Bei dem, was er mit seinen Mannen nun beraten würde. Es gefiel mir nicht, aber ich gehorchte und ging.

Vorerst.

Meine Hand zitterte leicht, als ich die Türklinke zu meiner Kammer berührte und ich atmete tief aus, als ich sie endlich drückte. Das Haus hinter mir lag in dunkler Stille und nur wenn ich angestrengt lauschte, vernahm ich Aegmars schwere Schritte, der in der Halle auf und ab ging und wartete. Ich betrat schließlich das kleine Zimmer vor mir und bemühte mich, die Tür so laut wieder ins Schloß fallen zu lassen, daß er es hören mußte und sich sicher sein konnte, daß ich nicht mehr in seiner Nähe war.
Ich öffnete mein Haar und rieb es trocken. Der Regen prasselte gegen mein Fenster und ließ den Blick auf die Bäume vor dem Haus unwirklich verschwimmen. Ich war enttäuscht, daß Aegmar mich fortgeschickt hatte. Und ein wenig zürnte ich ihm. Die Dinge gingen nicht nur ihn etwas an. Nein, es war nun zu unserer Angelegenheit geworden. Und was immer er entschied, was immer er tun wollte – ich sollte es erfahren. Also würde ich zuhören, bei allem was er zu sagen hatte. Ich legte mein feuchtes Wams ab und beeilte mich, mich in eine trockene Tunika zu hüllen. Dann entledigte ich mich meiner Schuhe und schlich lautlos und auf auf bloßen Sohlen wieder zur Tür. So leise ich nur konnte, öffnete ich sie und schlüpfte hindurch. Dann schloß ich sie ebenso leise wieder und begab mich auf die Treppe. Auf halber Höhe machte sie einen Knick nach links und war von der großen Halle aus einsehbar, also kauerte mich just auf eine der letzten Stufen, die gerade noch im Verborgenen lagen. Im Treppenhaus brannte kein Licht und ich drückte mich an die Wand. Schatten hüllten mich ein und waren nun mein Auge und mein Ohr. Ich legte eine Wange auf meine angezogenen Knie und spähte durch die Spaliere des Treppengeländers, darauf achtend, daß mein Kopf aber nicht die Dunkelheit verließ und meine Augen mich verrieten.
Ich hatte den großen gemauerten Kamin im Blick, zwei der Stühle, die darum standen und einige der Jagdtrophäen, die neben dem Kamin an der Wand hingen. Der Kopf eines Elches blickte mich aus leeren Augen an.
Aegmar trat schließlich vor den Kamin und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und auch wenn ich es nicht sehen konnte, wußte ich, daß er die Augen schloß. Ich schluckte und schloß sie ebenfalls für einen winzigen Moment. Eine ganze Weile stand er so unbeweglich da und rührte sich nicht. Das Knistern des Feuers im Kamin war alles, das auf seine Weise mit ihm zu sprechen schien und dem er sich schweigend mitteilte.
Dann horchte ich auf, als sich endlich die Türe zur Halle öffnete und Herr Therowig zurückkehrte. Aegmar drehte sich augenblicklich um und löste seine Hände und seine Nachdenklichkeit. Er straffte sich und hob das Kinn an. Therowig war in Begleitung von Hauptmann Aneawin und ebenso zweier weiterer Herren, die ich nicht kannte. Aber einer von ihnen trug eine silberne Rüstung und ein großes Schwert auf seinem Rücken, sein Haar war lang und schwarz und mir wäre beinahe ein überraschtes Aufseufzen entkommen, als ich daraus zwei spitze Ohren hervorschauen sah. Er war ein Elb. Seine Haltung war aufrecht, aber zurückhaltend. Er sagte nichts, jedoch schlug er in Aegmars ausgestreckte Hand ein und aus einem leichten Beugen seines Kopfes und seinem unaufgeforderten Platznehmen auf einem Sessel nahe dem Feuer, schloß ich, daß sie sich gut kannten und er ein Freund von Aegmar war. Vielleicht sogar seiner Schar angehörte, ein Offizier war. Es kam mir ungewöhnlich vor, aber auf seltsame Weise war ich froh, daß er anwesend war. Elben waren für ihre Weitsicht und ihre Besonnenheit bekannt, und ich hoffte, daß dieser hier viel davon besaß.


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#5

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:27
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Als die Stühle in einem Halbkreis aufgestellt waren und sie alle saßen, streckte ich den Kopf wieder leicht vor. Nur Aegmar blieb stehen und sah sie alle der Reihe nach an. Herr Aneawin wirkte müde, doch als Aegmar zu erzählen begann, wurde er hellwach. Ich sah ihn ab und an den Kopf schütteln. Therowig stützte irgendwann den Kopf in die Hände und seine Brauen zogen sich immer weiter zusammen, bis seine Stirn in tiefen Falten lag. Der Elb regte sich nicht. Seine Miene wirkte ausdruckslos, wenngleich er sicherlich mit der größten Aufmerksamkeit lauschte. Der mir unbekannte Mann wirkte ärgerlich.
Und als Herr Aegmar geendet hatte, ihnen erzählt hatte, was er wußte und was ich gewußt hatte, erstaunte es mich, daß gerade der Elb es war, der als erster das Wort ergriff und sprach: „Ich kenne die Menschen lange und ich meine, daß ich sie gut kenne. Gut genug, um zu wissen, daß nicht alle mit einem reinen Herzen geboren werden. Und gut genug, um auch zu wissen, daß es einige gibt, deren Herz mehr als gut und von großer Güte erfüllt ist. Von Stärke und Weisheit. Und andere gibt es, deren Herz sich noch nicht für das Gute oder das Schlechte entschieden hat. Was Ihr uns offenbart, mein Freund, zeugt von den schlechten Dingen, denen wir das Gute gegenüberstellen müssen.“ Er sah nun Herrn Aegmar direkt an. „Ihr beherbergt ein Geschöpf in Eurem Haus, das schwer einzuschätzen ist. Auf welcher Seite steht es nun? Auf der schlechten, da es sich den Verschwörern einst für ein paar Münzen anschloß und ahnen mußte, daß sie Schlimmes über Bree bringen würden? Oder auf der guten, da es sich schließlich entschloß, sich von ihnen abzuwenden und Euch treu zu sein?“
Ich preßte die Lippen aufeinander, als ich den Elb so reden hörte. Und mir wurde langsam bewußt, warum Herr Aegmar mich von diesem Rat hatte ausschließen wollen. Vermutlich hatte er nicht gewollt, daß ich mit anhörte, wie gegen mich gesprochen wurde.„Sie hat sich abgewandt, als ihr selbst Gefahr zu drohen begann.“, warf jemand ein. Wer es gesprochen hatte, konnte ich nicht sehen, aber ich spürte, daß es mir einen Stich versetzte. Ich erinnerte die Stimme nicht, doch weder mochte sie Aegmar, noch Therowig, Aneawin oder dem Elben gehört haben. Vermutlich war es also jener fünfte Mann, den Aegmar in den Rat berufen hatte.
Ich mußte mich bezwingen, um nicht aufzuspringen und in die Halle zu stürmen. Das war nicht wahr, so war es nicht gewesen! Mein Herz begann zu pochen und ich rang mit mir, eine Hand fuhr an die Wand neben mir und ich stützte mich ab, schon im Begriff, mich zu erheben, als Herr Aegmar fortfuhr: „Sie wandte sich ab, als sie erfuhr, daß diese Briefe einem dunkleren Zweck dienten, als sie angenommen hatte. In diesem Moment wußte sie noch nicht, daß es um mich dabei ging.“ Ich war ihm dankbar, daß er mich verteidigte, die Hand ließ ich aber auf der kühlen Wand liegen. Ich brauchte ihren Halt, meine Knie wurden weich und auch die Treppe schien plötzlich unter mir zu schaukeln, als sich wieder die Gedanken in meinem Kopf zu drehen begannen. Das Gespräch ging weiter, es war wieder der Elb, der die Stimme erhob: „Wollt Ihr jene in Eurem Haus weiter beherbergen, Freund, und sie beschützen – oder sind wir nur zu Eurem Schutze geeilt?“ Atemlos erwartete ich Aegmars Antwort, meine Finger verkrampften sich leicht. Der Unbekannte erhob sich und kam ihm zuvor: „Das Mädchen beschützen? Warum? Nur weil sie ein hübsches Gesicht hat? Wenn Ihr mich fragt, sollte sie ihre Sachen packen und gleich verschwinden. Das hier war und ist ein anständiges Haus und bei Elendil ist hier noch nie das Schurkenvolk ein- und ausgegangen. So sollte es auch bleiben, Ihr seht ja, was sonst passiert!“
Ich öffnete den Mund, abermals spürte ich, wie sich etwas in mir schmerzhaft zusammenzog. Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte, um eine Träne zurückzuhalten, die sich in meinen Augenwinkel stehlen wollte. Ich konnte dem Mann nicht widersprechen und doch wollte ich es. Ich hatte genug gehört, ich wollte nicht, daß sie überhaupt weitersprachen. Ich erhob mich langsam, hielt mich noch immer an der Wand fest und drehte mich um. Einen Blick warf ich über meine Schulter, einen letzten, bevor ich die Treppe wieder hinaufgehen und in mein Zimmer zurückkehren würde. Aegmar sah zu Boden und ich merkte, wie er die Kiefer fest aufeinanderpreßte. Dann stand Aneawin auf. „Es sollte nicht vergessen werden, daß wir Dank dieses...Volkes....überhaupt erst erfahren haben, daß die Gerüchte, die wir gehört haben, stimmen. Und daß wir ebenso wissen, wer solch üble Pläne gegen Herrn Aegmar schmiedet.“, warf er ein, sah in die Runde und setzte sich dann wieder hin. Trotz meines schweren Gemüts gelang mir ein Lächeln und ich zögerte wieder. Aegmar blickte zu Aneawin und betrachtete seinen Hauptmann eine Weile. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. „Nennen wir das Kind doch beim Namen: sie heißt Nariena. Und was wir von ihr gehört haben und was sie uns selbst mit ihren Taten von sich gezeigt hat, sind in meinen Augen unterschiedliche Dinge. Und es sollte in dieser Versammlung auch nicht um ihre Rechtschaffenheit gehen, sondern darum, was wir unternehmen werden in der Lage, in der wir uns befinden. Ich für meinen Teil kann nur sagen, daß ich niemanden im Stich lassen werde. Sei es einer von Euch, meine Herren, oder sei es eine Dame, über deren Edelmut Ihr Euch streitet. Ich streite mich darüber nicht.“ Therowig war es, der gesprochen hatte. Und ich sah, wie er sich unbewußt die Handgelenke rieb, als trüge er noch jene Fesseln der Orks, die mein Dolch einst zerschnitten hatte. Aegmars Blick wanderte zu ihm und auch ihn betrachtete er eingehend. Dann wandte er sich ab und trat wieder an den Kamin heran, die Hände legte er auf den Sims und sah in das Feuer. „Und wie entscheidest Du Dich, Aegmar, was tun wir? Ich bin sicher, Du weißt es bereits.“, knurrte der Unbekannte und ich warf ihm aus dem Schatten einen giftigen Blick zu.

Aegmar nickte langsam. Er tippte einmal mit den Fingerspitzen auf den Kaminsims, dann drehte er sich wieder um. „In der Tat ist meine Entscheidung längst gefallen und ich habe Eure Worte nun gehört. Es freut mich, daß sie daher nicht bei allen auf Gegenwillen stoßen wird. Ich teile die Einschätzung von Miss Nariena, daß Milo Hafermann nun zweifelsohne gezwungen sein wird, seine Pläne zu ändern, nachdem er davon ausgehen muß, daß sie mich gewarnt hat. Verwerfen wird er sie gewiß nicht. Nein, er wird rasch handeln, bevor er angezeigt wird. Er wird bald hierherkommen, vielleicht sammeln sich seine Mannen schon. Daher wird Miss Nariena hierbleiben und ich – wir alle – werden tun, was wir können, um sie vor Unheil zu bewahren. Der Bote wird nicht getötet werden. Ihr Eid gilt mir und auch, wenn es das ein oder andere noch zu klären geben wird, vertraue ich darauf und habe keinen Grund, ihn anzuzweifeln. Es ist, wie Therowig sagt: was sie gestern tat und was sie heute getan hat, sind zwei verschiedene Dinge. Darüber hinaus gibt es mehr, das Menschen verbinden sollte als Rechtschaffenheit.“, sagte er ruhig. Aneawin nickte. Therowig nickte. Der Elb zögerte, dann nickte auch er. Der andere Mann nickte nicht. Aegmars Blick legte sich auf ihn. „Ich möchte keine Zeit damit vergeuden, auch andere an ihren Eid zu erinnern. Aber wenn es sein muß, werde ich es tun.“, fügte er an. Wenige Momente sahen sie sich an, dann nickte auch jener und senkte den Kopf. Aegmar atmete verhalten durch, ich sah es nur daran, daß sein Brustkorb sich plötzlich stark hob. „Also...“, fuhr Aegmar fort, „...Aneawin, ich möchte, daß Du hinab in die Siedlung gehst und den Nachbarn sagst, daß sie die Türen fest verschließen. Auch möchte ich, daß der Verwalter das Anwesen verläßt. Ebenso die Dienstboten, Magda und...das Küchenmädchen. Es soll sich niemand im Haus aufhalten, dessen Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich ist. Therowig, Du schickst auch den Stallmeister und die Burschen fort. Sie sollen nach Bree gehen, einer von ihnen soll zum Turm der Wache aufbrechen, der andere die Miliz verständigen. Ich werde Milo Hafermann nicht aus dem Weg gehen, ich werde ihn erwarten. Wenn er mich herausfordert, antworte ich!“ Er machte eine Pause. „Holt auch die Pferde aus dem Stall, laßt sie auf die Koppel.“ Er blickte meinen Gegensprecher an. „Du begleitest Therowig. Verschließt den Stall anschließend gut. Wollen wir hoffen, daß die Nachricht der Zusammenkunft noch einige Gefährten erreicht, die in der Nähe verweilen. Mit jenen, die im Düsterwald beim Goldenen Heer sind, können wir heute Nacht wohl nicht mehr rechnen.“ Aegmar verzog einen Mundwinkel.
Alle nickten, alle hatten verstanden. Sie erhoben sich.

Therowig blieb noch einmal stehen, bevor er die Halle verließ. „Und was ist mit Nariena?“, fragte er. Aegmar schüttelte den Kopf. „Sie bleibt auf ihrem Zimmer. Wenn es zum Kampf kommen sollte, möchte ich nicht, daß sie dabei ist. Sie ist keine Kriegerin.“, war seine Antwort. Therowig strich sich über den Bart. „Nun...wenn sie muß, kann sie auch mit einer zweihändigen Keule umgehen, nicht wahr? Ich habe es gesehen. Ihr Dolch ist flink, er könnte uns fehlen.“, erwiderte Therowig, aber Aegmar schüttelte abermals den Kopf und diesmal gab es keinen Widerspruch. „Ich sagte Nein.“, waren seine letzten Worte. Therowig neigte leicht das Haupt, dann ging auch er.
Ich ging ein paar Stufen die Treppe hinauf und richtete mich auf. Aegmar hatte Recht, im offenen Kampf würde ich vielleicht nicht bestehen, aber das sollte mich keineswegs davon abhalten, meinen Teil beizutragen, wenn es so geschehen sollte, wie Aegmar es vorausahnte: ein Angriff auf das Haus. Auf ihn, auf mich. Es gab andere Wege, Gegner zu schlagen als mit der Klinge. List war ein großer Verbündeter von Kraft und Stärke. Und vor allem war sie mein Verbündeter.
Aegmar blieb noch einige Momente in der Halle zurück, er schloß einen der Fensterläden und zog die Vorhänge zu. Nur das Fenster, das hinaus auf den Hof zeigte, ließ er unverhangen. Er löschte auch die Kerzen und nur noch das Feuer im Kamin erhellte sanft den Raum. Dann ging er langsamen Schrittes hinüber zu der kleinen Pforte, die hinab in die Küche und zu den Vorratsräumen führte. Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ich wollte nicht oben in meiner Kammer bleiben. Was sollte ich dort anfangen? Warten? Endlos und alleine warten, mit der Sorge und der Furcht um meine Gefährten? Nein, das konnte ich nicht. Also würde ich seine Meinung ändern müssen. Noch immer barfuß schlich ich die Treppe hinab. Warm und hart war das Holz unter meinen Füßen, als ich Aegmar durch die Pforte folgte.

Aegmar bemerkte mich nicht, als ich die kleine Küche betrat. Er wandte mir den Rücken zu und suchte etwas in einem der Holzregale. Eine einzelne Kerze brannte auf dem langen Tisch, der den Raum teilte. Normalerweise speiste hier nur das Gesinde, aber Aegmar setzte sich nun auf die Bank vor dem Tisch, platzierte etwas umständlich einen Kelch vor sich und eine Weinflasche daneben. Er entkorkte sie mit den Zähnen und goß den Kelch so voll, daß der Wein über den Rand lief und rote Flecken auf dem Holz der Tischplatte hinterließ. Dann spuckte er den Korken unachtsam einfach neben sich auf den Boden und nahm einen tiefen Zug. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, hatte ich das Gefühl, daß er wirklich verärgert war und Wut an ihm nagte.
Als er mich endlich im Türrahmen stehen sah und sich bewußt wurde, daß ich ihn beobachtet hatte, zuckte er leicht zusammen. „Was zum...!“ entfuhr ihm, es klang dunkel und rau. „Bitte verzeiht mir.“, sagte ich leise. Er atmete tief aus und lehnte sich zurück. „Wie lange steht Ihr schon da? Wie lange steht Ihr überhaupt schon da?“, sagte er dann und ich bemühte mich, seinem Blick standzuhalten. Ihm zu sagen, daß ich gerade erst meine Kammer verlassen hatte, würde sicherlich nicht sehr glaubwürdig erscheinen. Er wußte längt, daß ich die ganze Beratung mit angehört hatte. „Lange genug.“, erwiderte ich daher nur und wagte einen vorsichtigen Schritt in die Küche hinein. „Ihr seid es nicht gewohnt, daß Ihr tut, was man Euch sagt.“, meinte er, atmete erneut aus und winkte mich dann zu sich heran, hieß mich ihm gegenüber auf der anderen Bank Platz nehmen. „Nein, das bin ich nicht – und ich verspreche Euch auch nicht, daß ich es noch lernen werde. Jedenfalls...nicht bei solchen Dingen, wie sie heute vor sich gehen. Und wenn Ihr erlaubt, möchte ich gleich anfügen, daß es Euch nicht noch einmal einfallen sollte, mich aus einem Kampf herauszuhalten, zu dem ich durchaus etwas beitragen kann. Wenngleich auch nicht auf die Weise, wie Ihr es wohl könnt.“ Aegmar hob eine Augenbraue und trank erneut aus seinem Kelch. „Ihr sprecht forsch, Frau Nariena, ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt.“, gab er zurück. „Und mir gefällt nicht, daß Ihr hier sitzt und trinkt und mich nicht ausreden laßt.“ Er hob auch die zweite Augenbraue, ließ den Kelch aber langsam sinken. „Ich werde die Türen und die Fenster mit einigen kleinen Fallen versehen, die uns die Ankunft unserer Gäste ankündigen werden. Aber einen klaren Kopf behalten solltet ihr trotzdem.“, fuhr ich fort. Meine Ermahnung schien Aegmar plötzlich zu belustigen und ich hörte ihn leise lachen. „Macht Euch keine Sorgen, ich bin nicht betrunken. Ich vertrage wohl ein bißchen mehr Wein als Ihr, schätze ich.“, sagte er. Es klang wieder versöhnlicher.
„Aber...die Fallen sind eine gute Idee. Ihr versteht von solchen Dingen mehr als ich.“ Ich nickte und erhob mich, kletterte über die Bank und besah mir die Regale. Ich suchte nach Löffeln, Gabeln, Suppenkellen. Ich plante, sie auf einen Zwirn aufzuziehen und vor Fenster und Türen zu spannen.Was ich fand, sammelte ich ein und hielt alsbald einen bunten Strauß in Händen. Aegmar verfolgte mit den Augen all meine Bewegungen. Währenddessen trank er wieder und wieder vom Wein. Als ich noch ein paar Messer nahm, die vor ihm auf dem Tisch lagen und die wohl vom letzten Abendessen übrig geblieben waren, bemerkte ich, daß er die Flasche beinahe schon ganz geleert hatte. Ein kläglicher Rest schimmerte nur noch dunkel durch das helle Flaschenglas. Als er abermals danach griff, tat ich es ihm kurzentschlossen gleich und hielt die Flasche am Hals fest. Aegmar sah mich überrascht an und wollte sie fortziehen, aber ich hielt dagegen. Sein Blick verfinsterte sich. „Laßt los...“, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich an und er preßte die Lippen aufeinander. „Warum tut Ihr das, Herr Aegmar? Milo Hafermann ist kein ebenbürtiger Gegner für Euch.“ Aegmar war es, der plötzlich die Flasche losließ. „Nein, Milo Hafermann nicht.“, erwiderte er leise. Ich legte den Kopf schief und setzte mich neben ihn auf die Bank. „Denkt Ihr an seinen Gefährten? Den Fremden, der mich so seltsam an Euch erinnerte?“ Aegmar nickte. „Warum beunruhigt dieser Mann Euch?“, fragte ich nach. Ich konnte es mir nicht recht erklären. Aegmar legte die Hände auf den Tisch und griff dann zögerlich nach seinem Weinkelch. Er war leer, aber Aegmar drehte ihn nachdenklich zwischen seinen Fingern. „Nicht nur Ihr habt Geheimnisse, die irgendwo in Eurer Vergangenheit liegen und an die Ihr lieber nicht mehr rühren würdet, Frau Nariena.“, meinte er dann. Ich war überrascht. „Was meint Ihr damit, mein Herr? Habt Ihr denn eine Ahnung, wer er sein könnte? Für mich schien er einfach nur einer dieser Strauchdiebe zu sein, mit denen Milo und Ward sich abgeben.“ „Er ist kein Strauchdieb. Er...auch wenn ich noch hoffe, daß ich mich irre...ist mein Bruder.“

Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich glauben konnte, was Aegmar mir soeben gesagt hatte. Seine Worte klangen noch lange in meinem Kopf nach und ich hatte ihn in dieser Zeit wohl einfach nur angestarrt. Er sah auf seine Hände, die den Kelch hielten, doch seine Augen sahen weder den Tisch, noch die Küche, noch mich. Ich war sicher, daß sie in längst vergangene Zeiten blickten, die mit einer Erinnerung nun wieder lebendig wurden und die Aegmar mit dem tiefsten Ernst erfüllte, den ich je an ihm wahrgenommen hatte.
Ich atmete einmal tief aus und legte das Besteck auf den Tisch, das ich gesammelt hatte. Es klapperte und Aegmar schreckte auf. „Euer Bruder.“, sagte ich dann nur. Er nickte. „Wart Ihr je verheiratet, Frau Nariena?“, fragte er plötzlich genauso unvermittelt, wie er mir zuvor erzählt hatte, daß er einen Bruder hatte, der seinen Tod wollte. Und es erschien mir nicht minder unwirklich und so furchtbar unpassend zu jenem Bild, daß ich in den vergangenen Wochen von Aegmar gewonnen hatte. Ich hob die Augenbrauen und spürte, wie auch in mir eine längst vergangene Zeit wieder lebendig zu werden schien. „Nein, ich war nie verheiratet – aber ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn es einen Menschen gibt, der uns so nahe gekommen ist, daß er unser Herz berühren konnte. Darauf wolltet Ihr hinaus, denke ich.“ „Ja, das wollte ich. Ich selbst war auch noch nie verheiratet, aber mein Bruder war es. Seine Frau ist tot, gestorben auf dem langen Weg, den meine Familie von Gondor ins Breeland bereisen mußte. Es geschah ein oder zwei Tage, nachdem wir Bruchtal erreicht und nach kurzer Rast wieder verlassen hatten, um die Trollhöhen zu überwinden.“, begann er und seine Augen wanderten zu der Weinflasche hinüber, die ich immer noch festhielt. Ich holte tief Luft. „Ihr müßt mir das nicht erzählen, wenn Ihr es nicht wollt, Herr Aegmar.“, sagte ich leise, als ich seinem Blick folgte. Er lächelte bitter. „Die Flasche ist ohnehin fast leer, also schenkt den Rest aus. Dann spreche ich weiter. Wenn Ihr danach nichts mehr von mir halten werdet, nehme ich das auf mich – aber ich glaube nicht, daß es so sein wird.“, erwiderte er und ich gab nach. Ich goß den Wein in seinen Kelch. „Ihr habt Recht. Es wird nicht so sein. Also erzählt es mir bitte.“ Ich wußte, daß ich es auch hören wollte. Und so schwieg ich und stellte die leere Flasche behutsam fort, darauf wartend, daß Aegmar fortfahren würde.
„Ich weiß, daß es Abend war. Ich sehe noch den Sonnenuntergang zwischen den dunklen Bäumen. Wir entzündeten ein Feuer und lagerten nahe der Oststraße. Aber das Holz war naß, es hatte geregnet und das Feuer ging immer wieder aus. Also machte mein Bruder sich auf, um in den Wäldern nach trockenen Ästen zu suchen. Ich blieb am Lager, ich sollte es bewachen – ich war neben unserem Vater der einzige Krieger in unserem Zug, ich bin damals Gardist gewesen und trug das Banner des Weißen Baumes über meinem eigenen. Ich sollte das Lager beschützen. Aber ich konnte es nicht, als die Trolle über uns kamen. Ich konnte nicht alle beschützen. Sie...sie lief davon in hellem Schrecken. Sie war so furchtbar erschrocken...sie hatte nie einen Waldtroll gesehen. Meine Rufe, daß sie zurückkommen sollte, denn wir mußten alle unbedingt zusammen bleiben, erreichten sie nicht mehr. Und als ich bei ihr war, war es längst zu spät. Sie geriet zwischen die Trolle und wurde zermalmt. Mein Bruder gab mir die Schuld daran. Ich hatte Wache, sagte er. Ich hätte das verhindern müssen. Ich hätte es einfach verhindern müssen. Er blieb noch zwei Tage bei uns, in tiefster Trauer versunken kam kein einziges Wort mehr über seine Lippen. Und dann war er eines Morgens fort. In den Wald verschwunden, auf Pfaden, die ihn einfach verschluckt zu haben schienen. Mein Vater sagte: 'Aegmar ist Schuld' sei das Letzte gewesen, das er ihn sagen gehört hatte. Und für meinen Bruder bin ich es seitdem. Schuld. Für ihn trage ich die Verantwortung. Meinem Vater brach es das Herz, daß wir uns auf diese Weise entzweit hatten. Es hatte nie eine Aussprache gegeben, nie eine Versöhnung, ich konnte meinem Bruder nie erklären, daß...sie einfach fortlief. Aber wahrscheinlich hätte er mir ohnehin nicht geglaubt. Aegmar ist Schuld.“
Er preßte die Lippen aufeinander, dann leerte er den Weinkelch in einem Zug. „Ihr seid nicht Schuld, Herr Aegmar.“, sagte ich. Er nickte bedächtig. „Nicht vollkommen Schuld.“, antwortete er und lehnte sich zurück. „Ich dachte...er wollte in den Wäldern ebenfalls den Tod suchen, um seiner Frau nachzufolgen, vielleicht wieder bei ihr sein und mit seinem Ende auch den Schmerz beenden. Aber ich irrte mich, vor etwa einem halben Jahr habe ich in im Breeland gesehen. Er hat sich verändert, und ich hielt seine Erscheinung zunächst für ein Trugbild. Aber als ich ihn einige Wochen später erneut sah, diesmal recht nahe der Siedlung, war ich mir sicher, daß er es war.“ „Wie ist der Name Eures Bruders?“, fragte ich. Aegmar sah mich an. „Er heißt Aramir.“, erwiderte er und sein Blick glitt über mein Gesicht. Er fand dort, was er suchte. Ein Erkennen. Ich atmete tief aus. „Aramir?“, entfuhr es mir. Ich kannte ihn. Nein, eigentlich hatte ich nur von ihm gehört, aber ich wußte, wer er war. „Euer Bruder ist ein Schwarzwold!“, rief ich aus. Aegmar verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. „Beinahe habe ich mir gedacht, daß Ihr mit ihm bekannt seid.“, meinte er. Es klang sonderbar, beinahe traurig. Ich schüttelte sofort den Kopf. „Ich bin nicht mit ihm bekannt. Auch wenn einige das Gegenteil behaupten mögen, aber mit den Schwarzwolds hatte und habe ich nichts zu tun. Ich habe nicht einmal Geschäfte mit ihnen gemacht. Glaubt mir, daß sie auch in den Breeländer Schattenvolkgilden nicht sehr angesehen sind. Schwarzwolds werden nur von anderen Schwarzwolds geschätzt – und sonst niemandem!“ Ich erwiderte Aegmars Blick nun entschieden, bis er den seinen senkte und nickte. „Natürlich. Verzeiht.“

Unser Gegner hatte nun ein Gesicht. Eines, daß mich noch Schlimmeres ahnen ließ, als ich es bisher getan hatte. Milo Hafermann und auch Winston Ward waren beide Kaufleute, keine Kämpfer. Daß sie sich ausgerechnet der Schwarzwolds bedienten, um die Politik in Bree nach ihren Vorlieben neu zu ordnen, erschreckte mich. Aber ich erinnerte mich auch, wie entsetzt Milo Hafermann gewesen war, als Aramir ihm eröffnet hatte, daß auch der Mord an einem Edelmann nun Teil ihres Planes geworden war. Vermutlich war den Händlern selbst die Sache aus den vereinbarten Bahnen geraten und verlief nun gegen ihre Billigung, aber wenn sie sich mit der übelsten Räuberbande im ganzen Breeland einlassen mußten, geschah ihnen das beinahe recht.
Ich nahm die Gabeln und Löffel und Suppenkellen wieder auf, die ich gesammelt hatte. „Wohlan, Schwarzwolds also.“, sagte ich und erhob mich. „Wenn Euer Bruder keinen anderen Weg der Trauer fand und Rache durch Mord seine einzige Sühne zu sein vermag, dann verdient er nicht, daß Euer Herz und Euer Gemüt seinetwegen schwer sind, Herr Aegmar. Selbst wenn Ihr sein Weib eigenhändig getötet hättet, würde Euer Tod sie nicht wieder lebendig machen. Ebensowenig wie sich der Finsternis zu verschreiben und jenseits von allem zu leben, das gut und schön ist in unserer Welt.“ Ich wollte mich zur Türe wenden und die Küche verlassen, aber Aegmar hielt mich am Arm fest. Er sah mich an, als erstaunten ihn meine Worte. Sein Blick war fragend und ich ahnte, welche Worte er gerne an mich gerichtet hätte. „Es wurde mir schon viel Gold angeboten, dafür, daß ich meinen Dolch an der Kehle des Liebhabers einer untreuen Ehefrau sprechen lassen sollte oder ein Mitbewerber in einem guten Geschäft verschwinden sollte – aber ich habe jedesmal abgelehnt. Also glaubt mir bitte, daß es eine Grenze gibt, die ich niemals überschreiten würde. Ich habe noch nie jemanden getötet, wenn es nicht absolut notwendig gewesen war.“, kam ich seiner Frage zuvor.
Er ließ mich los. „Wißt Ihr, Frau Nariena...ich meine immer, daß ich schon weiß, daß Ihr eigentlich nie so etwas tun würdet und hätte es vor anderen auch beschworen. Aber sicher war ich mir bis jetzt dennoch nie.“, sagte er. Ich mußte auf einmal lachen und schüttelte den Kopf. Aegmar schmunzelte, dann lachte auch er. „Ich muß wieder um Verzeihung bitten. Vielleicht vertrage ich doch keinen Wein, ich rede ziemlich viel.“, gestand er. Ich lächelte ihn freundlich an. „Das ist nicht schlimm, mein Fürst. An anderen Tagen redet Ihr dafür ja gar nicht.“ Aegmar nickte und erhob sich nun ebenfalls. Er strich sich nachdenklich über den Bart. „Ja, das ist wohl so. Ich...werde Euch jetzt beim Anbringen der Fallen helfen. Sagt mir einfach, was ich tun muß.“

Und dann verließen wir die Küche, ebenso die Erinnerungen.


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#6

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:27
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Wir spannten das Besteck auf lange Zwirnfäden und befestigten es vor den Türen und Fenstern, vor allen am rückwärtigen Teil des Hauses. Nur die Hauptpforte, die hinaus auf den Hof führte, ließen wir unbedacht. Ich hoffte, daß mein Plan aufgehen würde und das klimpernde Besteck uns jeden Eindringling ankündigen würde. Auch Schwarzwolds verstanden sich auf das geschickte Öffnen von Schlössern, ohne eine Türe eintreten zu müssen, da war ich sicher.
Herr Therowig kehrte irgendwann wieder, Herr Aneawin, Herr Maethruth. Wenige Gefährten waren wir, die darauf warteten, daß sich erfüllte, was wir befürchteten. Herr Aegmar hieß alle in der großen Versammlungshalle warten. Abwechselnd sollte gewacht werden und wer nicht die Augen offen halten mußte, der sollte ein wenig schlafen. Herr Aegmar übernahm die erste Wache und zog sich einen Stuhl heran, an den er griffbereit sein Schwert lehnte. Doch dann sah er mich plötzlich an und runzelte die Stirn. „Ich möchte jetzt wirklich, daß Ihr auf Euer Zimmer geht und dort bleibt, Miss Nariena.“, sagte er. „Bitte?“ Aber ich dachte....“, entfuhr es mir. Aegmar sah mich direkt und entschieden an. „Ich danke Euch sehr für unser....Gespräch. Aber es hat nicht meinen Wunsch über Euren Verbleib außer Kraft gesetzt.“ Ich erwiderte den Blick und für Momente starrten wir uns wortlos an, dann drehte ich mich abrupt um und ging. Ich stieg die Treppe hinauf und verhüllte nicht, daß ich ärgerlich war. Ich war auch erschöpft, die Glieder schmerzten mir von dem schnellen Ritt, von dem Klettern über Schluchts Dächer, von meiner Flucht. Und doch würde ich keine Ruhe finden. Ich war aufgebracht, aufgeregt.
Ich ließ mich auf den dunklen Holzboden fallen, als ich meine Kammer betrat und lehnte den Kopf an die Kante meines Bettes. In dem kleinen Kamin war das Feuer schon beinahe erloschen und glomm nur noch matt, die Schatten, die an den Wänden tanzten, waren schwach und durchscheinend. Es mochten bald die Morgenstunden nahen und die Sonne wieder über dem Breeland aufgehen, doch noch waren die Schatten da. Noch verdrängte die Nacht den Tag. Noch waren die Stunden der Schwarzwolds nicht vorüber. Ich schloß die Augen. Und ich schlief trotz meiner Vorsätze es nicht zu tun, fest ein.

Es war wie ein Klirren in weiter Ferne, das plötzlich nah an mich heranrauschte. Schmerzhaft klingelte es in meinen Ohren und hinterließ ein Gefühl von Kälte, wie Eiszapfen, die von einem Baum brechen und dem Wanderer, der unbedacht unter ihnen herwandert, auf dem Kopf zerspringen. Ich riß die Augen auf und fuhr mir mit der Hand an die Wange. Ich spürte etwas kleines, hartes auf meiner Haut, das mir in die Fingerkuppe schnitt. Ein kleiner Glassplitter. Erstaunt blinzelte ich auf das winzige, glitzernde Dinge, noch trunken vom erschöpften Schlaf. Die Kälte streifte mich erneut, es war der Wind, der durch ein offenes Fenster zu mir drang. Und da war auch wieder das Rauschen an meinem Ohr. Es war der Regen, der auf das Dach über mir prasselte.
Ich fuhr jäh aus meiner schläfrigen Erstarrung. Das Fenster war nicht einfach nur offen. Es war eingeworfen, zerschlagen und schon wurde der Boden darunter naß von den eindringenden Regentropfen. Doch noch etwas war mit dem Regen und dem Gewitter eingedrungen und ich spürte seinen festen Griff, der sich um meinen Hals legte, zudrückte und mich nach vorne riß, als ich nach Luft schnappte.
Mein Kopf schlug auf den Holzboden auf, ich atmete den alten Teppich, der in der Mitte des Zimmers lag. Dann wurde ich herumgedreht und ein Gewicht legte sich auf meinen Bauch und meine Beine. Ich starrte in die schwarze Silhouette eines Mannes, sah seine Augen funkeln in der matten Dunkelheit und hörte sein kehliges Lachen. Ich verfluchte mich selbst und den Schlaf, in den ich gefallen war. Es hatte begonnen. Wir waren nicht mehr allein, wir mußten nicht mehr warten. Unsere Gegner waren nun hier. Und einer hatte mich überrascht und bereits seinen Weg in das Haus gefunden. Ich dachte sogleich an meine Gefährten unten in der Halle. Wußten sie schon, daß die Schwarzwolds hier waren? Gab es einen Kampf? Waren sie wohlauf? Ich lauschte angestrengt, aber ich vernahm nichts als das ausgehende Feuer im Kamin und wieder jenes raue Lachen. „Wen haben wir denn hier...“, sagte eine Stimme, die aus dem Lachen hervorging. Sie packte mich mit der anderen Hand am Kinn und drehte mein Gesicht in den Feuerschein. „Ich dachte, die Dachkammer sei leer und unbewohnt, aber scheinbar ist sie sogar ein ganz besonderer Raum. Ich kenne Dich doch. Du bist Nariena, die Katze.“ Der Griff um meine Kehle ließ etwas nach, als wollte die Gestalt, daß ich antwortete. „Das war ich einmal.“, sagte ich nur und mein Hals fühlte sich trocken an. Ich hustete, als ich nach Luft schnappte. Der Mann beugte sich zu mir herunter, kam meinem Gesicht nahe und ich roch Bier, ich roch den Wald und sein ungewaschenes Haar und seine schmutzige Kleidung. Ich wollte den Kopf zur Seite wenden. „Stimmt, du warst es. Jetzt bist du ja das Liebchen von einem Edelmann, das habe ich schon gehört.“, erwiderte er. „Ich bin niemandes Liebchen, Kerl. Merk dir das.“, war meine Antwort und sogleich drückte er wieder zu und schnürte mir die Luft ab. „Natürlich nicht....“, fuhr er fort mit unverhohlenem Spott. „...ich bin sicher, die feinen Herren spendieren neuerdings Pferde, Häuser und feine Kleider ganz ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“ Ich erwiderte nichts darauf. Nicht nur, weil ich es nicht konnte, sondern weil ich es nicht wollte. Es gab Wesen, die gute Dinge taten, ohne etwas dafür zu erwarten. Und weder Aegmar noch ich mußten sich dafür rechtfertigen. Also schwieg ich und wartete ab. Der Schlaf war aus meinem Geist gewichen und mein Verstand wurde wieder klar. So deutlich und klar wie selten zuvor. Ich versuchte abzuschätzen, wie groß der Schwarzwold war. Wie schwer. Ich studierte seine Körperhaltung. Da er mich so überrascht hatte, fühlte er sich sicher. Sein Grinsen war überlegen, überheblich. Und innerlich mußte ich beinahe ebenso lächeln. Selbstgefällige Menschen waren stets einfache Gegner, denn sie hatten eine Schwachstelle, die ihnen allen gemeinsam war: ihre Gier und ihre Eitelkeit. Mit Kraft und Stärke würde ich ihm nicht entrinnen, aber mit den richtigen Worten.

Er senkte den Kopf noch weiter und schnupperte an meinem Hals. Wie ein Hund, dachte ich. Ich schloß die Augen und schluckte. Ich hatte nicht nur gegen den Schwarzwold anzukämpfen, sondern auch gegen meinen eigenen aufkeimenden Zorn und mein Atem beschleunigte sich. „Mmmm, Parfum...“, grunzte er. Ich verdrehte leicht die Augen. Daß man nicht stank, wenn man nur regelmäßig badete, brauchte ich einem Räuber wohl nicht zu erklären versuchen. „Spendabel, dein Fürst, Katze.“ Ich spannte leicht die Muskeln an, dann öffnete ich die Augen und drehte den Kopf wieder zu meinem Gegner. Er ließ es geschehen und die Hand an meinem Kinn zog sich zurück an meine Schulter. Er streichelte darüber, als wollte er den Stoff fühlen, in den ich gekleidet war. Vielleicht wollte er auch etwas anderes spüren. Seine Finger glitten über mein Schlüsselbein. Meine Nasenspitze berührte nun beinahe die seine und er nahm das Gesicht ein wenig zurück, bevor er es mir wieder näherte und mit der Zunge schnalzte. „Spendable Männer wußte ich schon immer zu schätzen.“, sagte ich, so beherrscht wie ich konnte. Sofort lockerte sich der Griff um meinen Hals wieder. „Wenn man sie nicht lange überreden muß, um zu geben, was sie haben...“, fügte ich an und bemühte mich, meine Stimme erneut ruhig und leise klingen zu lassen. Mein Gegner überlegte einen Moment und ich spürte, wie er sein Gewicht verlagerte. „Nun...eigentlich hatte ich etwas anderes vor, als mich mit dir zu beschäftigen, Katze...aber ich nenne es einen glücklichen Umstand. Deinem Fürsten die Kehle durchzuschneiden hat vielleicht noch ein paar Minuten Zeit...“. Er überlegte nun laut. „Wenn du ihn tötest, gehört alles, was er besitzt dir. Du wärst ein gemachter Mann.“, meinte ich. Und dann betonte ich noch einmal „Alles“. „Tja, da hast du Recht, Katze. Früher sagte man, es sei schwer an dich heranzukommen.“ Er grinste wieder. Ich nickte. „Das ist es auch noch, und meine Ansprüche sind gestiegen.“, erwiderte ich. Er stieß die Luft aus. Ich hatte ihn herausgefordert. Er war nicht nur gierig, er war nun auch noch verärgert. Ich hörte ihn knurren. „Na, das werden wir ja sehen! Im Moment liegst Du jedenfalls hier...und mir gefällt das sehr.“, giftete er und erhob sich dann leicht, dabei seine Hände lösend, um nach meinen Armen zu greifen. Mein Augenblick war gekommen. In jener winzigen Sekunde, die blieb, als sein Gewicht nicht mehr auf mir ruhte und ich atmen konnte, riß ich meinen Arm hoch, bevor er danach greifen konnte. Ich hieb ihm den Handballen unter das Kinn. Seine Zähne schlugen laut aufeinander und sein Kiefer knirschte. Er jaulte kurz auf vor Schmerz, wahrscheinlich hatte er sich auf die Zunge gebissen. Eine seiner Hände fuhr an sein Gesicht, die andere tastete nach mir. Ich ließ meinen Arm sinken und zog meine Finger zu einer hohlen Krümmung zusammen. Katze hatte er mich genannt und das war auch früher mein Name in Bree gewesen. Und nun spürte er tief meine Krallen in der Haut seines Handrückens, die darüber harkten und tiefe Kratzer hinterließen. Er zog die Hand an sich heran und konnte sein Gleichgewicht nicht mehr halten. Er mußte sich zur Seite drehen und sich abstützen. Und ich war längst unter ihm hinfort geglitten, hockte nun vor ihm und meine Hand suchte sein Gesicht, schlug wieder die Fingernägel hinein und machte eins seiner Augen blind. Er brüllte. Er fluchte. Ich griff hinter mich und warf den Stuhl um, der vor meinem Schreibtisch stand – in der vagen Hoffnung, daß man das Geräusch unten in der Halle hörte und Hilfe zu mir eilen würde.
Der Stuhl hielt meinen Gegner nicht lange auf. Mit einem zusammengekniffenen Auge und immer noch einer schützenden Hand an seinem Kiefer, zog er seinen Dolch und fuhr zu mir herum.

Ich griff nach dem Kerzenleuchter auf meinem Tisch, aber ich konnte ihn nicht anheben. Das an ihm hinab gelaufene, geschmolzene Wachs hielt ihn an der Tischplatte fest. Ich rüttelte vergebens.
Ich mußte zur Tür. Ich mußte an ihm vorbei.
Er stand direkt vor mir, lauernd, zielend, den Dolch erhoben und ich behielt nur die Klinge im Auge. Gefaßt auf eine Bewegung seiner Schulter, ein Vorzucken seines Armes, das verraten würde, wenn er mich angriff. Unter dem ersten Stich tauchte ich hinweg, drehte mich einmal um mich selbst und kam hinter ihn. Der Türgriff war nur noch zwei Schritt entfernt und ich sprang rückwarts, den Schwarzwold weiter im Auge behaltend. Er kam wieder näher. Ich drehte mich abrupt herum und riß noch in der gleichen Bewegung die Türe auf. Ich sprang über die Schwelle und öffnete die Lippen, um laut zu rufen, aber mir entkam nur ein winziger Schrei, denn er hatte mich am Haar gepackt und riß mich zurück. Mit einer solchen Wucht, daß ich kurz kleine Lichtblitze vor meinen Augen tanzen sah. Ich griff hinter mich und versuchte das Handgelenk meines Angreifers zu fassen. Bestimmt würde sein Dolch abermals nach mir suchen, mein Rücken lag ausgebreitet wie ein Tuch vor ihm.

Dann hörte ich schwere, hastige Schritte auf der Treppe. Er hörte sie auch. Und er erschrak, dachte einen Augenblick zu lange nach und verpaßte den Moment, in dem er besser zugestochen hätte. Denn abermals duckte ich mich, drückte meinen Kopf fest in seine Handfläche, so daß er nicht mehr an meinem Haar riß und der Schmerz verschwand. Ich schlug auf sein Handgelenk. Er ließ den Dolch nicht fallen, aber bog den Arm reflexartig aus meiner Reichweite.
Aegmar erreichte uns, ich sah ihn auf den obersten Stufen der Treppe. Dicht hinter ihm war Herr Therowig. Der Räuber ließ mich los, als er entschied, daß er es nun mit bedrohlicheren Gegner als mir zu tun hatte, denen er sein Augenmerk schenken mußte. Mich zu töten hatte er nun keine Zeit mehr. Er stieß mich zur Seite und Aegmar packte mich sogleich an der Schulter, zerrte mich hinter sich. Ich stolperte und spürte Therowigs Hände an meinen Seiten, der mich auffing und sogleich weiterschob, die Treppe hinab. Diesmal stolperte ich, fiel drei Stufen hinab und landete auf meinen Knien – an jener Stelle wo die Treppe einen Knick machte. Hastig strich ich mir das gelöste Haar aus dem Gesicht, ignorierte den Schmerz in meinen Knien und blickte nach oben.

Es ging sehr schnell. Ich sah Aegmars Klinge aufblitzen, ich sah auch die von Herrn Therowig. Dann hörte ich sie mit dem Dolch des Räubers zusammenschlagen. Sie überkamen ihn wie das Gewitter draußen, wütend wie ein Sturm, der die Halme auf einem Kornfeld umknickt. Ich mußte dem Körper des Schwarzwold ausweichen, als er die Treppe hinab gerollt kam und stumm und mit geweiteten Augen neben mir liegen blieb. Ich drückte mich an die Wand und keuchte, dann faßte ich mich, richtete mich auf und zog mir die Tunika stramm. Aber mit seinem Tod war diese Nacht nicht vorüber und das Unheil noch nicht überstanden. Aegmar hielt kurz inne, heftete den Blick auf meine Wange und ich vermutete, daß der Glassplitter mich dort verletzt hatte und Blut über meine Haut lief. Mit dem Handrücken wischte ich es fort. Aegmars Blick glitt weiter, an mir hinab. Prüfend, ob meine Kleider unversehrt waren und mir nichts passiert war. Seine Hände zitterten, als hätte er mit etwas Grauenvollem gerechnet, aber er ließ sie sinken, als er sah, daß es nicht so war. Dann nickte er knapp und war die Treppe schon wieder nach unten und zurück in die Halle geeilt.
Herr Therowig verweilte einen Augenblick länger, legte behutsam die flache Hand auf meinen Oberarm und sah mich fragend an. „Ich bin wohlauf.“, sagte ich und fügte dann noch ein „Danke.“ hinzu. Therowig seufzte und fuhr sich durch das halblange Haar. „Möge Euch heute Nacht nicht verlassen, was Euch sonst auch Glück bringt, Nariena.“, sagte er dunkel und drehte sich dann langsam um. Ich sah ihm nach. Auch wenn keine Zeit dafür war, wenn es keineswegs der richtige Moment dafür war, dachte ich darüber nach, was mir Glück brachte. Glück war etwas, auf das man sich nicht verlassen konnte und daher hielt ich es für unsinnig, irgendein Kleinod damit zu beauftragen und seinen Glauben daran zu heften – so, wie es Viele taten. Aber Therowig hatte mir Glück gebracht. Und Herr Aegmar hatte mir ebenso Glück gebracht. „Dann verlaßt Ihr mich nicht.“, sprach ich. Therowig hielt inne, als er den Fuß der Treppe erreicht hatte. Auch er hatte keine Zeit, denn in der Halle war plötzlich ein lautes Knistern zu vernehmen und ein seltsamer Geruch breitete sich aus. Aber er war da, stand dort auf der Treppe und drehte sich zu mir um. Seine Augen glänzten und er lächelte knapp. „Werd ich nicht.“, sagte er und schüttelte den Kopf. Er wartete, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte – und dann holte uns die verstrichene Zeit, die wir angehalten hatten, rasch wieder ein. Alles ging plötzlich so schnell, als passierten mehrere Dinge gleichzeitig und ich wußte nicht mehr, wohin ich zuerst geblickt hatte. Wohin ich zuerst hätte blicken sollen.
Neben mir barst auf einmal ein Fenster und die Vorhänge wehten wild in den Raum hinein. Ein zweites zerplatzte, ein drittes. Herr Aneawin lief an mir vorbei und ich riß den Unterarm vor das Gesicht, als ich wieder Glassplitter fühlte, die wie winzige Nadeln durch den Stoff meiner Tunika stachen. Etwas sengend Heißes flog an mir vorbei und blieb glühend auf dem Holzfußboden liegen, wo es ein helles Licht verbreitete. Ein Feuerpfeil. Die erste Treppenstufe loderte auf in züngelnden Flammen. Therowig packte mich um die Mitte und hob mich hoch. Er machte einen Satz nach vorn und stellte mich dann wieder auf die Füße. Das Feuer leckte nach dem Treppengeländer. Ich schlug mir einige Funken aus, die auf meiner Hose tanzten und sah Therowig an. Ich hatte wieder Glück gehabt.

Ich stolperte gegen Therowig und stieß dann auch mit Herrn Aneawin und dem Elben zusammen, als er mich weiterzog. Ich vernahm ein lautes „NEIN!“, das jemand rief und das so schmerzerfüllt und voller Trauer an mein Ohr drang, daß ich schlucken mußte. Dann hörte ich es wieder: „....nein....“ Diesmal klang es heiser, erdrückt und verzweifelt. Beinahe geflüstert. Tränen begannen aus meinen Augen zu quellen, und es war nicht nur, weil mich dieser Ausruf so sehr rührte, sondern weil auch die ganze Halle sich mit dichtem, unheilvollem Rauch zu füllen begann. Einer der Vorhänge rutschte von seiner Stange vor dem Fenster und fiel in schwarzen Aschefäden zerstört in sich zusammen. Sie alle brannten, alle Vorhänge, und auch die Teppiche – ich sah es erst jetzt! Durch jedes der Fenster waren Brandpfeile geschossen worden, die Läden waren aufgebrochen und etwas oder jemand hämmerte von außen an die schwere Pforte zum Haus. Doch sie hielt. Herr Aneawin versuchte einen der glimmenden Teppiche auszutreten und die Flammen unter seinen Stiefeln zu ersticken, doch es flogen nur noch mehr Funken davon. „Nein!“, erklang es wieder, diesmal war es gebrüllt, geknurrt, aus der tiefsten und düstersten Kehle, die ich je vernommen hatte. Es war Aegmar gewesen.
Wir alle hatten uns nun in der Mitte der Halle versammelt, dort, wo das Feuer noch fern erschien. Nur Aegmar stand abseits, drehte sich um sich selbst und sah mit zornigem Schrecken in den Augen dem Feuer zu, wie es sein Haus langsam zu verzehren begann. Er ließ seine Klinge fallen, die er so fest in der Hand gehalten hatte und stürmte dann auf eines der Fenster zu. Mit bloßen Händen wollte er in die Vorhänge greifen, als könne er so das Feuer aufhalten. Nur mit seinem Willen und seiner unerschöpflichen Kraft. Ich hielt erschrocken die Luft an und streckte einen Arm nach ihm aus, doch ich griff ins Leere. Therowig aber war schneller als ich. Er jagte Aegmar nach. „Aegmar, nicht! Laß es, es hat keinen Zweck mehr!“, beschwor er den Freund und packte seinen Arm. „Er wird es nicht zerstören!“, erwiderte Aegmar, außer sich. Er versuchte, sich loszureißen, doch Therowigs Griff war entschlossen. Er schlang Aegmar die Arme um die Brust, als dieser sich umdrehte, und sich wieder dem Feuer zuwandte. „Doch, das wird er! Gib es auf, wir können nichts mehr tun!“, preßte er hervor. Er zog Aegmar langsam zurück in die Mitte des Zimmers. Mit seiner ganzen Kraft hielt er den Freund fest. Und Aegmar stemmte sich so sehr dagegen, daß ich beinahe fürchtete, Therowig würde ihn von den Füßen reißen.
Aber dann gab er endlich nach und ließ sich mitziehen. Seine hellen Augen fuhren in seinem verzerrten Gesicht über die Wände der Halle, die sich langsam dunkel zu verfärben begannen. Der Rauch wurde dichter und ich mußte husten, jedesmal, wenn ich zu atmen versuchte. Auch der Elb trat nun an Aegmar heran. „Diesen Kampf gewinnt man nicht mit einem Schwert, sondern nur noch mit großem Mut. Wir müssen hinaus, sonst werden wir hier drinnen sterben.“, sagte er ruhig. Ich schüttelte den Kopf. Der Elb sah Aegmar an, als kümmerte es ihn kaum, was gerade um uns herum geschah. Doch Aegmars Blick war dafür umso lebendiger. „Lieber sterbe ich hier drin, in meinem Haus, als die Tür zu öffnen und mir gleich einen Pfeil von irgendeinem Straßenräuber einzufangen! Meinen Tod gönne ich keinem gewöhnlichen Buschdieb!“, knurrte er. Ich atmete tief ein und mußte sogleich wieder husten. „Aber ich glaube auch, daß Herr Maethruth Recht hat.“, begann ich behutsam. Hitze kitzelte mich im Nacken, dennoch zwang ich mich, wenigstens ein bißchen so ruhig und bedächtig zu wirken wie mein Vorredner. „Aramir will Euch aus dem Haus locken. Weil er weiß, daß wir hier drinnen jedem, der auch nur den Kopf durch die Tür zu stecken gewagt hätte, sofort selbigen abgeschlagen hätten.“ Mein Blick wanderte zu dem toten Schwarzwold auf der Treppe. Mir kam der Gedanke, daß er vermutlich Feuer im Dachgebälk hatte legen sollen, aber das war jetzt nicht mehr von Belang.

„Die einzige Möglichkeit für Euren Bruder, Euch ebenbürtig und vor allem lebendig zu begegnen, war es, Euch aus dem Haus zu treiben. Er wird Euch nicht sogleich töten, das würde ihm weder Vergnügen bereiten, noch seine Rache erfüllen. Er hat lange auf Euch gewartet, er wird den Moment auskosten wollen.“, schloß ich dann und Aegmar starrte mich an. Sein Gesicht war eine gefrorene Maske aus fahlem Eis. Sein Blick war ungläubig. „Meinen Tod genießen?“, preßte er dann zwischen seinen Zähnen hervor. Er hatte Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren. Für ihn mußte so ein Gedanke wahrlich unvorstellbar und an Grausamkeit kaum zu übertreffen sein. „Glaubt mir.“, sagte ich schlicht. Und ich war sicher, daß es stimmte. Es gab viele Männer wie Aramir, die sich lange Zeit ihren Plänen von Sühne hingaben und deren Seele darin vor Haß und Zorn vergiftet wurde. Und am Ende kannten sie nur noch einen Gedanken: der, an dem sie sich rächen wollten, sollte genauso leiden, wie sie es in dieser Zeit getan hatten. Aramir würde Aegmar keinen raschen Tod gewähren, wenn er ihn je zu fassen bekommen würde. Das machte ihn einerseits berechenbar, andererseits....umso gefährlicher. Aber es bot auch den winzigen Hauch einer Hoffnung, das Schicksal einen anderen Lauf nehmen zu lassen, als Aramir es geplant hatte.
Ich sah Aegmar eindringlich an. Die Luft wurde immer trüber, der Rauch immer dichter. Wir hatten keine Zeit mehr, sie rann uns durch die Finger wie trockener Sand. Ich spürte eine leichte Benommenheit, meine Lungen begannen zu brennen. „Aegmar, entscheide Dich!“, sprach nun auch Therowig und seine Hand legte sich auf des Freundes Schulter, sie fest drückend. Aegmar atmete tief aus. Einer der Deckenbalken begann sich bedrohlich durchzubiegen, er konnte jeden Moment einstürzen. Dann schloß Aegmar die Augen und fuhr sich mit dem Ärmel seines Hemdes darüber. Als er sie wieder öffnete, war er vollkommen ruhig und gefaßt. Er bückte sich und griff nach dem Schwert, das er fallen gelassen hatte. Er betrachtete die Klinge für einige Momente, das Feuer spiegelte sich rotgolden darin. Dann drehte er sich zu uns um. „Was auch geschehen mag, ob dies das Ende aller Dinge ist – oder ob wir weitere Tage erleben werden...ich bin froh, daß Ihr alle bei mir seid. Und ich danke Euch dafür. Im Leben, wie im Tod bin ich Euer Freund und Ihr seid meine Freunde. Wir werden uns wiedersehen.“ Das sagte er – und dann ging er zur Pforte, die hinaus in den Hof führte.

Es wehte uns ein leichter Wind entgegen; Begleiter des Gewitters, das immer noch über dem Breeland schwebte und den Nachthimmel mit dunklen, schweren Wolken verschloß. Ein neugieriger Zuschauer, der die Fratze nicht von dem Unheil wenden konnte, das sich durch Menschenhand und nicht durch Naturgewalt unter ihm zusammengebraut hatte. Regen ging in dünnen, silbrigen Fäden zur Erde nieder und bei Elendil – vermutlich wünschten wir uns alle, daß seine Kraft ausreichen könnte, um die Flammen zu stillen, die hinter uns im Haus brannten. Aber das tat sie nicht, die Tropfen verdampften und nicht genug Wasser drang in die Hallen, um sie zu retten.
Als wir alle hinaus traten in den Hof, herrschte Stille. Kein Pfeil raste auf uns zu, kein Bolzen einer Armbrust. Und kein Wurfdolch oder ein Messer. Es war, wie ich es erahnt hatte. Ein Abwarten, ein Luftholen vor dem großen Schlag, den das Schicksal tun sollte. Das Schicksal, das einer der Männer, denen wir nun begegneten, herbeisehnte.
Als ein Blitz sein Leuchten über den Hof jagte, sahen wir etwa zehn oder zwölf Gestalten, die im Halbkreis geschart vor dem Haus lauerten. Aegmar blieb stehen und wartete, bis sich seine Augen an die graue Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Morgen mußte bald hereinbrechen, irgendwo in der Ferne glomm bereits ein mattes Licht, wie eine Kerze, die einsam auf einem Nebelfeld brennt.
Der Reihe nach blickte er die Männer an und es dauerte einige Momente, bis sich einer aus dem Kreis herausschälte und einige Schritte nach vorne wagte. Er stand jetzt mitten auf dem Hof. Wir hörten das Spannen von Armbrüsten, die ihn beschützen würden. Doch Aegmar hob langsam sein Schwert, bis die Spitze der Klinge auf die Brust des Mannes zeigte. Anklagend streckte sich ihm der kalte Stahl entgegen, doch die Antwort war nur ein Lachen. Der Mann kam näher, er blieb erst wieder stehen, als das Schwert ihn beinahe berührte. „Aegmar...“, sagte er dann. Ich erkannte die Stimme wieder, die ich in Milo Hafermanns Haus gehört hatte. „Aramir.“, entgegnete Aegmar und ließ langsam die Klinge sinken, doch nicht so weit, daß sie den Boden berührte.
Selbst wenn kein Gewitter über unsere Köpfe gezogen wäre, so wäre die Luft nun von einer knisternden Spannung erfüllt gewesen, die kaum zu ertragen war. Aegmar und Aramir starrten sich schweigend an. Ich konnte Aegmars Gesicht nicht sehen, ich stand hinter ihm – doch in den Augen seines Bruders vernahm ich die tiefste Abscheu, die ich je an einem lebenden Wesen erblickt hatte und ich schauderte. Dennoch studierte ich den Mann. Er sah Aegmar wahrhaftig ähnlich. Sein Gesicht, seine Augen, das alles erinnerte sehr an ihn. Er war nur nicht ganz so kräftig, seine Züge waren hagerer, verkniffener. Und mir fiel auf, daß er sehr lange, schmale Hände hatte. Vielleicht war er einst Künstler gewesen, oder ein Barde, der die Laute gespielt hatte, bevor sie durch seine Trauer für immer verstummt war und er keine Musik mehr zustande gebracht hatte.
Vor allem beobachtete ich jedoch seine Körperhaltung, die angespannt war und ich konnte nicht erraten, ob er sich fürchtete oder ob er einfach nur ergriffen war. Sicher war ich mir nur in einem: er war grausam und er war verschlagen und sollte es zu einem Kampf kommen, der ganz sicher stattfinden würde, wenn auch nur einer von Beiden den ersten Schritt wagen würde, so würde Aramir auf keinen Fall ehrenhaft kämpfen. Ich behielt seine Hände im Auge, die sich nun hoben. Er legte die Fingerspitzen aneinander und tippte sich nachdenklich an das Kinn.
„Da sind wir nun, Bruder....endlich wieder vereint. Dachtest wohl, ich wäre tot. Auch gestorben, von den Trollen gefressen.“, begann er und bleckte die Zähne. Ich sah, wie sich Aegmars Hand fester um den Schwertgriff schloß. „Was willst Du....Bruder? Zusehen, wie mein Haus zu einer Ruine verbrennt – oder hast Du noch etwas anderes vorzubringen?“, erwiderte Aegmar. Es klang ruhig, aber seine Stimme war rau. Aramir fixierte ihn. „Nun...eigentlich war es nicht geplant, Dein Haus zu verbrennen, es hätte mir selbst ganz gut gefallen. Aber...“, Aramir sah an Aegmar vorbei und sein Blick fand mich. “...aber es gab einen Umstand, der mich zwang, meine Pläne zu ändern.“
Er schlug plötzlich einen Plauderton an, der mich noch aufmerksamer werden ließ. „Ich wollte nicht hierher kommen, ich wollte, daß Du zu mir kommst. In der Nacht vor dem Stadtfest in vier Tagen hätten wir uns gesehen, bei dem es zur allgemeinen Überraschung zur Verkündigung eines neuen Bürgermeisters gekommen wäre. Natürlich hätten wir Dich als Verräter und Anhänger des Heuchlers Zartlärche vorher schon verhaften müssen und Du wärst einen so armseligen Tod am Pranger gestorben. Zartlärche mit Dir – und das Stadtfest hätte am Morgen einen sehr interessanten Auftakt genommen, wenn sie euch beide gefunden hätten. Aber nunja, Dank Deiner kleinen Diebin da, haben sich die Dinge eben geändert. Ich meine, die Dinge, wo und wann Du sterben wirst. Nicht wie.“
Aegmar atmete aus und ließ die Klinge nun doch gen Boden sinken. „Aramir...ich habe Deine Frau nicht getötet.“, sagte er. Aramir tippte sich wieder gegen das Kinn. „Hm, nein, Du hast ihr nur dabei zugesehen. Das ist für mich das Gleiche. Und weißt Du...daher halte ich es nur für recht und billig, daß Du jetzt ebenfalls alles verlieren wirst. So wie ich. Aber vor allem ist es Dein Leben für das ihre, was ich will. Du brauchst nichts mehr zu sagen, Aegmar. Ich will nichts von Dir hören – Deine Männer und meine Männer, wir werden das nun klären und zu Ende bringen, so wie es vorgesehen ist.“


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#7

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:28
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Aramir löste seine Finger und hob eine Hand, er winkte über seine Schulter nach hinten. Klingen wurden gezogen, Kurzbögen gespannt und ich spürte, wie mein Herz einen Satz machte. Ich sah etwas Helles an der Innenseite von Aramirs Handgelenk aufblitzen, als er so die Hand hob, und kniff leicht die Augen zusammen. Auch wenn es mir mehr Sorgen hätte bereiten sollen, daß seine Schar nun auf uns anlegte, so konnte ich doch den Blick nicht von seiner Hand lösen und beobachtete das Glänzen, das wieder verschwand, als er die Hand senkte und die Arme vor der Brust verschränkte.
Der Regen prasselte auf uns herab und meine Tunika wurde schwer, auch Aegmars Hemd war durchnäßt und klebte ihm an Schultern und Rücken. Sein Haar war strähnig und er schüttelte es kurz, als nun auch er die Hand hob – jedoch nicht, um uns, seinen Gefährten, nun ebenfalls ein Zeichen zu geben, das wir uns kampfbereit machen sollten. Nein, er hielt mit dieser Geste seinen Bruder auf, der sich schon halb von ihm abgewandt hatte. „Aramir!“
Aegmars Ausruf war scharf und kühl und Aramir blieb tatsächlich stehen, drehte sich wieder um und zog die Brauen hoch. „Wenn es mein Leben ist, was Du willst, dann kämpfe auch nur mit mir. Oder traust Du Dich nicht, gegen Deinen eigenen Bruder anzutreten, ohne ein Schar von Räubern in Deinem Rücken? Glaubst Du, zu versagen? Dein Haß ist wohl doch nicht groß genug, um Dir die nötige Stärke zu verleihen.“, fuhr er fort und ich seufzte. Ich war betroffen. Darüber, daß nun der Kampf unausweichlich war. Und doch erleichtert, daß Aegmar einen so klugen Zug getan hatte. Was auch immer geschehen würde: er hatte uns und auch die Schwarzwolds vorerst beschützt. Und seine Worte ließen nur eine Annahme der Herausforderung zu, wenn Aramir vor seiner Bande nicht als Feigling gelten wollte. Er zischte wütend auf und kam raschen Schrittes wieder auf Aegmar zu. Er stierte dem Bruder zornig direkt in die Augen. „Verflucht sollst Du sein, Aegmar!“, knurrte er, doch Aegmar straffte nur seine Schultern. „Na, was ist? Los, besorg Dir ein Schwert und komm her. Du willst doch die Vorsehung entscheiden lassen – nimm sie selbst in die Hand.“, sprach Aegmar weiter.
Aramir spuckte auf den Boden aus. Er war nicht tapfer. Und das machte ihn heimtückisch. Ich mußte Aegmar warnen. Er kannte seinen Bruder nicht mehr. Und auch wenn er die Veränderungen ahnte und spürte, die mit ihm vorgegangen waren, so wußte er nichts über wahre Unehrenhaftigkeit.
Ich haderte einige Augenblicke mit mir, dann machte ich einen Schritt vor. Ich merkte, wie Therowigs Hand über meinen Oberarm glitt. Er wollte mich zurückhalten, aber ein kurzer Blick über meine Schulter in sein Gesicht ließ seine Hand sinken. Ich lächelte knapp, dann trat ich weiter vor, so behutsam wie möglich, bis ich neben Aegmar stand. Ich schluckte, als ich ein Dutzend Pfeilspitzen auf mein Herz ausgerichtet sah.
Aramir sah mich an. „Was soll das? Versteckst Du Dich nun hinter einem Weiberrock?“, höhnte er. Auch Aegmars Blick traf mich und er war nicht erfreut. Ich hob das Kinn an. „Ich will mich von Herrn Aegmar verabschieden.“, sagte ich. Aramir lachte. „Jaja, Miststück. Ich hatte nie die Gelegenheit, mich von meinem Weib zu verabschieden – also machs kurz.“ Er lachte erneut, dann winkte er mit der Hand ab und drehte sich um. „Schwert!“, brüllte er im Gehen einem seiner Mannen zu.

Aegmar sah auf mich hinab und öffnete den Mund. Er wollte mich zurückschicken, aber bevor er ansetzen konnte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schlang die Arme fest um seinen Hals. Ich schmiegte meine Wange fest an die seine und spürte seine regennasse Haut und seinen Bart. Er zögerte, dann hob sich langsam sein Arm und seine Hand legte sich unsicher auf meinen Rücken. Ich schmunzelte unfreiwillig, als er mich unbeholfen und äußerst kurz an sich drückte. „Frau Nariena...“, begann er, aber ich unterbrach ihn sofort. „Nein, hört zu! Ich will Euch nur warnen. Ich glaube, Aramir hat ein Messer oder ein Stilett in seinem Hemdsärmel. Er wird nicht ehrenvoll kämpfen, nehmt Euch in Acht. Laßt ihn nicht nah an Euch heran! Auf gar keinen Fall dürft Ihr das tun, hört Ihr?“ Aegmar nickte und ich ließ ihn los. Für einen Moment lang sah ich ihn noch an. Ich sagte ihm nicht, daß ich mich sorgte. Ich sagte ihm auch nicht, daß ich mich fürchtete.

Ich wünschte ihm nur viel Glück.

Aramir trat wieder an uns heran, in der Rechten hielt er ein Schwert. Der Regen lief mir über das Gesicht und ich wischte mit der Hand über meine Wange. Ich spürte, daß sich in das kalte Nass nun auch warme Tränen zu mischen begannen. Ich sah Aegmar noch einmal an, doch dann wurde ich jäh zur Seite gestoßen und spürte einen Schmerz an meiner Schläfe. Eine Faust entzog sich rasch dem Blick aus meinem Augenwinkel, so daß ich noch nur noch sah, wie Aramir sie zähnebleckend zurück an seine Seite nahm. „Verschwinde, Weib – oder die Abmachung gilt nicht mehr und ihr seid alle dran!“, zischte er. Aegmars Arm schoß vor und er packte seinen Bruder am Kragen, der ihn für einen Moment erschrocken, dann aber zornig und voller Abscheu anblickte. „Rühr sie nicht an...“, sagte Aegmar drohend, erinnerte sich aber sogleich meiner Warnung und stieß Aramir von sich, so daß dieser einen Schritt zurücktaumelte und seine Stiefel im Matsch laut aufplatschten.
„Angst um das Leben einer verfluchten Diebin, Aegmar? Fürchte lieber um Dein eigenes!“, rief er aus, als er sich wieder gefangen hatte. Und dann packte er seine geliehene Klinge mit beiden Händen und ging in Position. Seine Augen suchten die des Bruders und nur eines stand darin geschrieben: Tod. Einer von Beiden würde ihn in dieser Nacht finden.
Ich preßte eine Hand an meine Schläfe, sie pochte schmerzhaft und mir war leicht schwindelig. Ich drehte mich um und ging. Als ich Herrn Therowig erreichte, griff er sofort behutsam nach mir und zog mich zwischen sich und Herrn Aneawin. Beide Männer hatten die Hand auf die Knäufe ihrer Schwerter gelegt, doch noch würde keiner von ihnen eingreifen. Aegmar hatte den Kampf zu dem seinen gemacht und er verlangte, daß wir es respektierten. Wie auch immer er ausgehen würde.
Der Regen lief mir kalt in den Kragen der Tunika und meinen Rücken hinab. Aber ich spürte es kaum, mein Blick lag nun gebannt auf Aegmar und Aramir und mit all meinen Gedanken beschwor ich Elendils Geist um seinen Schutz...

Eine Weile umkreisten sie sich, taten langsame und kleine Schritte. Es war ein Abschätzen, ein Prüfen. Und dann machte Aramir den ersten Ausfall. Er setzte den rechten Fuß nach vorn, holte aus und zielte mit der Klinge nach Aegmars Hals. Es war ein schneller, präziser Schlag. Rasch ausgeführt und von berechnendem Kalkül. Er war nicht so plump, wie ich es angenommen hatte. Es kam ihm auch nicht darauf an, Aegmar zu verletzen, er wollte nur sehen, wie schnell sein Bruder reagierte – und der tat es wahrhaft schnell. Aegmar zog sein Schwert hoch und fing Aramirs Klinge ab, bevor sie seinem Hals auch nur nahe hätte kommen können.
Doch dann brach der Kampf wirklich los. Aramir war flink und gewandt. Streich auf Streich führte er, Schlag auf Schlag. Er zielte auf Aegmars Kopf, auf seine Beine, seinen Bauch. Er drängte ihn sofort in die Defensive und es war, als würde nicht mehr ein Mensch ein Schwert führen, sondern eine dunkle Silhouette aus glühendem Haß, die die Gestalt eines Mannes angenommen hatte. Aegmar parierte, fing die Schläge ab, blockte manche mit der Kreuzstange seiner Klinge. Einige Paraden waren einfach, andere gelangen ihm nur knapp. Aramir drängte ihn über den Hof, die Streiche rissen nicht ab.
Die Luft war erfüllt von metallischem Singen, von hallenden Schlägen, die zubeißen und töten wollten. Aramir führte seine Angriffe jedoch selten mit Kraft, nur mit Schnelligkeit. Seine Stiefel rutschten manchmal über den matschigen Boden, doch sofort hielt er sein Gleichgewicht wieder und stürmte erneut vor.
Er bedrängte Aegmar so sehr, daß dieser in einer Pfütze ausglitt und beinahe gestürzt wäre, hätte seine Hand nicht im letzten Augenblick noch einen Halt gefunden und ihn aufrecht gehalten.
Verbissen waren sie nun beide, hochkonzentriert. Aber ich sah, daß Aegmar sich nur verteidigte. Er griff niemals selbst an – er wollte seinen Bruder nicht töten. Ich ahnte, daß sein Gedanke war, ihn nur zu ermüden, ihn dann in einem Moment der Unachtsamkeit zu erwischen, um ihn zu entwaffnen und nur niederzuschlagen. Doch Aramir ließ es nicht zu. Ich war sicher, daß er sich lange, sehr lange, für diesen Augenblick geübt hatte und auch nicht vergessen hatte, daß sein Bruder ein anderer Kämpfer war als er selbst. So lachte er nur hin und wieder, griff weiter an – und wurde immer wütender. Vermutlich hätten sie noch Stunden so kämpfen können, Aegmar wäre nicht gefallen, er hielt stand wie die großen Ulmen, die auf dem Hof standen. Er hielt Aramir hin, und dieser prallte immer wieder an ihm ab wie eine Welle an einer stummen Felswand. Schließlich brachte das Aramir schier zur Raserei und der Punkt war nahe, wo er etwas unternehmen würde, um dieses Patt zu durchbrechen.

Ich spürte leichte Übelkeit und umklammerte Therowigs Arm. „Therowig...“, flüsterte ich leise und sah zu ihm auf, Therowig erwiderte den Blick mit einem verhaltenen Grinsen und tätschelte meine Hand. „Läuft doch alles wunderbar, Aramir hält nicht mehr lange durch, der wird gleich vor Müdigkeit umfallen und dann ist alles vorbei! Aegmar macht das schon.“, meinte er. Ich schüttelte den Kopf. Nein. Das war falsch. Es stimmte nicht. Etwas blitzte in Aramirs Augen auf, etwas Sonderbares. Es würde etwas passieren. Aegmar war nicht in Sicherheit. Abermals schüttelte ich den Kopf und sah zu Aneawin und dem Elben. Auch jener kniff plötzlich leicht die Augen zusammen, als hätte er eine Veränderung bemerkt.
Aramir brachte plötzlich einen Abstand zwischen sich und Aegmar und griff ihn nicht mehr an. Er wartete, bis Aegmar Luft geholt hatte, dann erst stürmte er wieder vor, vollführte eine Drehung und bückte sich noch in der Bewegung. Seine Hand glitt über den Boden und er nahm etwas von dem Matsch auf. Er warf ihn. Aegmar stutzte und wich nur halbherzig aus. Matsch...was sollte Matsch ihm anhaben...seine Stirn runzelte sich in Unverständnis. Und er beging den Fehler, auf den Aramir gewartet hatte. Für nur einen winzigen Moment wandte er den Blick von seinem Bruder ab und sah dem Klumpen nach, der ihn ohne Wirkung an der Schulter streifte und dann in eine Pfütze platschte. Aramir griff ihn wieder an und Aegmar hob sein Schwert, um den Streich zu parieren. Er war kraftlos geführt, ohne Ernst, und Aegmars Parade stieß Aramir zurück, schickte ihn wieder in eine Drehung, in der er seine andere, unbewehrte Hand hochriß und Aegmars Gesicht nahe kam. Aegmar wertete sie nicht als Gefahr – bis die versteckte Klinge im Hemdsärmel nach oben in Aramirs Handfläche vorschnellte und in Aegmars Gesicht schoß.
Ich schrie auf, als ich Aegmar stöhnen hörte. Sein Kopf flog zur Seite, Regentropfen stoben aus seinem dunklen Haar davon, als er zur Seite taumelte und sich nach vorn beugte. Beinahe wäre ihm die eigene Klinge entglitten, als er an seine Augen griff. Blut quoll zwischen seinen zitternden Fingern hervor und auch Therowig sog hart die Luft ein. Er wollte einen Schritt nach vorn machen, eingreifen, und hielt sich nur im letzten Augenblick noch zurück. Er fluchte. Auch Aneawin fluchte.
Und Aramir...Aramir lachte. „Nun sind Dir wohl die Augen geöffnet, Bruder!“, höhnte er.
Aegmar richtete sich langsam wieder auf und biß die Zähne zusammen. Er hatte alle Mühe, Aramir nun auszuweichen, der ihn umgehend wieder angriff. Mit einer Hand versuchte er die Schläge abzufangen, mit der anderen fuhr er hastig über sein Gesicht, um das Blut fortzuwischen, das ihm in die Augen lief und seine Sicht beinahe unmöglich machte.
Aramir hatte auf Aegmars linkes Auge gezielt und es nur äußerst knapp verfehlt. Er hatte ihm jedoch einen langen tiefen Schnitt beigebracht, der von der Stirn durch die Augenbraue bis hinab zur Nasenspitze verlief. Und die Wunde spie unaufhörlich Blut. Aegmar kniff schließlich irgendwann das Auge zusammen und versuchte so, Aramir weiterhin zu begegnen. Er sah seinen Bruder an, als sei ihm erst jetzt deutlich bewußt geworden, daß dieser tatsächlich vorhatte, ihn umzubringen. Er schüttelte den Kopf – und dann veränderte sich auch etwas an Aegmar. Er war verletzt. Er nahm es nun nicht länger hin, sich zu verteidigen. Es war kein Spiel mehr. Es war bitterer Ernst. Und so verwandelte sich auch Aegmars nächste Parade in einen Angriff, der Aramir am Arm verletzte. Sein Unterarm blutete.

Mir wurde nun speiübel und ich wandte das Gesicht ab. Ich vergrub es an Therowigs Arm. Ich schämte mich dafür, aber ich konnte es nicht verhindern, ich begann zu weinen. Wir hatten uns auf eine gewisse Art vielleicht überlegen gefühlt, wir sahen uns über einer Bande von Räubern stehen, die für uns nur armselig und dreckig gewesen waren. Und auch, wenn wir sie nicht zu unterschätzen gewagt hatten, so mußten wir nun doch einsehen, daß wir stolz gewesen waren. Es gab keine Regeln mehr, keine Ehre, es gab nur noch einen Kampf, dessen Sieg der Preis das Weiterleben war. Und Aegmar stritt diesen Kampf für uns alle.
Ein lautes Klirren ließ mich zusammenschrecken. Schwert verhakte sich in Schwert und eine Weile rangen Aegmar und Aramir miteinander, maßen ihre Kraft und versuchten einander in eine Richtung zu drängen. Aegmar gab schließlich nach, hob die Hand und ballte sie zur Faust. Er hieb sie Aramir gegen den Wangenknochen und ich war sicher, daß ich ihn noch trotz des rauschenden Regens knirschen hörte. Aramir rächte sich sofort. Der Regen war nurmehr der Vorhang zu einem grausigen Schauspiel, der Donner ruhmloser Applaus.
Ich wollte nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Ich war nur noch beseelt von einem einzigen Gedanken: sie würden sich beide gegenseitig umbringen! Und ich konnte es nicht ertragen.
Wenn die Schwarzwolds jubelten und Therowig zusammenzuckte, ahnte ich, daß Aegmar abermals verletzt worden war. Wenn Therowig tief ausatmete, wußte ich, daß Aegmar es gesühnt hatte. Er stolperte nun öfter, mußte sich immer wieder auffangen, er konnte kaum noch etwas sehen. Ich konnte nicht mehr an mich halten, ich wollte, daß es endlich ein Ende fand. Abrupt riß ich den Kopf hoch. Aegmar war nahe bei uns, die Klinge seines Schwertes hatte bereits eine tiefe Scharte. Ich wollte Aegmar beistehen – irgendwie! „Vergiß doch endlich, daß er Dein Bruder ist! Er ist es schon lange nicht mehr!“, rief ich aus, doch es kam mir wie ein heiseres Krächzen vor.
Aber Aegmar schien es dennoch gehört zu haben. Der Regen hörte plötzlich auf, es tröpfelte nur noch aus den Kronen der Ulmen und von den Rändern des verkohlten Daches.
Sie beide, Aegmar und Aramir, taten einen Blick nach oben. Das Licht wurde heller, als eine Wolke aufbrach. „Tse...“, machte Aramir und sah seinen Bruder an. Es klang seltsam, beinahe versöhnlich, als hätte er sagen wollen „Sieh mal einer an, es gibt doch noch Sonnenschein, wie schön er ist.“ Worte, wie sie zu einem friedlichen Morgen gepaßt hätten, an dem sie beide an einem Tisch Platz genommen hätten, auf dem das Frühstück gedeckt war.

Doch was auch immer Aramir gedacht haben mochte, was auch immer er noch gesagt haben wollte – er tat es nicht mehr und es war das letzte Sonnenlicht, das er erblicken würde. Aegmar hatte als Erster den überraschten Blick vom Himmel gelöst. Er packte sein Schwert mit beiden Händen und stieß es vor. Tief drang es in Aramirs Seite, der seine Klinge hochriß, aber viel zu hoch ansetzte, um diesen Schlag noch abfangen zu können. Er jaulte auf und taumelte zurück, als Aegmar die Klinge mit einem Ruck wieder aus dessen Seite riß. Aramir lächelte bitter, dann wich sein Lächeln einer Verwunderung, die ihn blinzeln ließ. Erstaunt sah er auf seine Seite, dann zu Aegmar. „Na los, bring es zuende....“, hauchte er, doch Aegmar schüttelte plötzlich den Kopf und wich einen Schritt zurück. „Ich habe keinen Groll mit Dir, Du warst einst mein Bruder....“, erwiderte er und es klang schmerzvoll. Aramir ging langsam in die Knie. „Feigling.“, knurrte er und stöhnte auf. Er rang schwer nach Atem und sein Mund verzog sich. Er verdrehte die Augen. „Feigling...“, wiederholte er noch einmal. Aegmar starrte ihn wie angewurzelt an. Dann lachte Aramir noch einmal sein kehliges raues Lachen, kam mühsam wieder auf die Beine – und ohne, daß Aegmar es verhindern konnte, warf er sich vor und das Schwert drang abermals in seine Seite ein. Aramir klammerte sich an Aegmar fest, seine Hand rutschte über den Bauch seines Bruders. Aegmar zuckte zusammen, rührte sich aber nicht. Aramir schloß er die Augen. Er kippte nach hinten. Und blieb auf dem Rücken liegen.
Aegmar ließ sein Schwert fallen, wischte sich über das Gesicht. Seine Stiefel rutschten durch den Matsch, als er neben ihm auf die Knie fiel.
Die Schwarzwolds blieben verunsichert zurück, die sahen einander nur an, unschlüssig. Aegmar packte Aramir an den Schultern und drehte ihn herum. Er wischte ihm den braunen Schlamm aus dem Gesicht. „Aramir! Du hast mir keine Wahl gelassen....ich wünschte, Du hättest es getan.“, sagte er. Und dann wiederholte er noch einmal den Namen seines Bruders. Er hörte ihn nicht mehr.
Ich ließ Therowigs Arm los. Stumm sahen wir zu, wie Aegmar dort auf dem Hof kniete und ich wußte, wir allen waren erschüttert und keiner von uns fand die richtigen Worte oder auch nur die richtigen Gedanken. Was geschehen war, brach uns allen das Herz.

Aneawin war es wohl, der als Erster wieder zu sich fand und in der Lage war, seine Erschütterung abzuwerfen. Er trat ein paar Schritte vor. Dann noch ein paar, bis sein Gang sicher und fest wurde und immer schneller. Er hielt seine Klinge hoch erhoben und rannte schließlich auf die Schwarzwolds zu. Er umrundete Aegmar und blieb erst hinter ihm wieder stehen, bis er ihn mit seiner Erscheinung vor allen Blicken abgeschirmt hatte. Er wollte nicht, daß unselige Blicke Aegmars Trauer befleckten. „Verschwindet, Dreckspack! Es ist vorbei, Aramir ist tot, also geht wieder in Eure Löcher zurück und laßt Euch hier nicht noch einmal blicken!“, brüllte er.
Tatsächlich kam Bewegung in die Schwarzwolds, erst zögerlich, dann kühner. Sie hatten hier nichts mehr zu tun. Zu plündern gab es nichts, das Haus war zerstört. Und zu töten...Aneawin war so außer sich, daß sie wohl wähnten, daß er es mit ihnen allen zusammen aufgenommen hätte. Auch Herr Therowig kam nun heran und trat neben den Hauptmann.
Ja, sie gingen. Sie drehten sich schließlich um und trotteten langsam von dannen.
Ich wußte in diesem Moment noch nicht, daß sie ihren Unterschlupf nicht erreichen würden. Denn endlich, als die Sonne aufgegangen und das Unwetter vorbei war, liefen sie auf dem Grünweg der Miliz in die Arme. Es dauerte lange, bis wir benachrichtigt wurden, daß sie alle im Gefängnis von Bree saßen und sicher nicht mehr zurückkehren würden.

Jonah, der Stalljunge, den Therowig vor Stunden losgeschickt hatte, hatte Bree zu Fuß erst kurz vor dem Morgengrauen erreicht. Beinahe ebenso lange hatte er gebraucht, glaubhaft zu versichern, daß ein schrecklicher Kampf bevorstand, denn als er einmal angefangen zu reden, da hatte man alles von ihm wissen wollen. Alles über die Intrigen, alles über Herrn Aegmar. Dann erst war die Miliz erwacht. Aegmar sollte vielleicht Recht behalten: im Breeland saß man die Dinge eben gerne aus. Und nur Elendil weiß, wofür es gut gewesen sein mochte. Wäre die Miliz eher eingetroffen und hätte die Schwarzwolds überrascht, dann wäre der Pakt gebrochen, den Aramir und Aegmar geschlossen hatten. Dann wäre es vielleicht doch noch zu einer unseligen Schlacht gekommen, die diesem Ort für immer ihren Frieden geraubt hätte.
Winston Ward und Milo Hafermann hatte man nie wieder im Breeland gesehen. Ich bedauerte ein wenig, daß sie in ihrer Feigheit so schlau gewesen waren, sogleich das Weite zu suchen. Vielleicht haben sie eine andere Stadt gefunden, in der sie Unruhe gestiftet haben – aber ich bin sicher, sie haben es nie wieder mit der Hilfe von Räubern getan.

Ich war wohl die Letzte, die sich von ihrem Schrecken erholte und für die der Moment am längsten andauerte, in dem alles zuende gegangen war.
Ein Teil des Daches stürzte hinter mir ein und ich sprang nach vorn, als ich das fürchterliche Krachen hörte. Aegmar war in sich zusammengesunken. Er kniete immer noch neben Aramir auf dem schlammigen Boden des Hofes. Sein Hemd war zerrissen und an vielen Stellen rot verfärbt. Er brauchte Hilfe. Der Elb war es, der zu mir trat. Er schob mich behutsam zur Seite und griff nach Aegmars Schultern. Er atmete schwer. Er sah den Elben an, er sah mich an. Eine Hand lag zitternd auf seinem Bauch, dort, wo Aramir ihn ein letztes Mal berührt hatte. Er löste sie erst, als der Elb ihn vorsichtig am Handgelenk nahm und seinen Arm fortbog. Wir sahen Aramirs versteckte Handklinge, die dort in Aegmars Leib steckte.
Ich unterdrückte ein verzweifeltes Stöhnen, als mein Herz einen schmerzhaften Sprung tat. Der Elb wandte mir den Kopf zu. „Meine Dame, bittet Herrn Therowig, daß er in die Stadt aufbricht und den Heiler benachrichtigt. Herrn Aneawin brauche ich hier. Er hat unsere Leben gerettet, nun ist es an uns, das von Herrn Aegmar zu retten. Ich weiß, die Nachbarn sind fortgegangen oder verängstigt in ihren Häusern eingeschlossen, aber Euch vertraue ich an, daß Ihr auf Freundschaft und Wohlwollen treffen werdet, und ein freundliches Wesen findet, das uns aufnimmt.“ Er sprach es sanft und höflich, aber in seinen seltsamen Augen las ich, daß er mehr als besorgt und Eile geboten war. Er sah mich immer noch an, als er Aegmars Arm losließ und den seinen ausstreckte. Gerade noch rechtzeitig, als Aegmar das Bewußtsein verlor und gegen seine Schulter sackte. Er wandte langsam den Kopf und sah in Aegmars Gesicht. Er würde nichts mehr sagen, seine Aufmerksamkeit galt jetzt allein Aegmar. Also erhob ich mich und taumelte vorwärts. Zu Therowig und Aneawin. Stockend brachte ich hervor, was mir aufgetragen worden war. Und dann rannte ich weiter, wie betäubt und mit schweren Beinen, die sich nur wie Blei mit äußerster Kraft heben ließen.
Voller Verzweiflung und doch voller Hoffnung gelangte ich irgendwann an eine hölzerne, verschlossene Tür, die zu einem benachbarten Anwesen gehörte. Ich klopfte an. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu klopfen. „Macht auf....bitte macht doch auf....“, rief ich. Atemlos.


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#8

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:29
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Epilog:



„Nariena! Kind! Komm schnell her!“

Ich hob den Kopf, als ich die aufgebrachte Stimme Magdas, der Köchin, vernahm. Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Stirn und stellte den schweren Eimer, den ich getragen hatte, sofort ab. Wasser schwappte über den Rand und er kippte beinahe um, doch ich hatte keine Zeit für den Gedanken daran, daß ich ihn später erneut am Brunnen würde auffüllen müssen. Wenn Magda rief, dann gehorchte man!
Seit Tagen führte sie das Regiment und hielt die Ordnung im Haus, ihr Wort duldete nie auch nur den geringsten Widerspruch. Als die Nachricht, daß Schwarzwolds eine der Siedlungen im Breeland überfallen hatten, aber letztendlich besiegt und dingfest gemacht worden waren, war sie als Erste nach Hause zurückgekehrt. Ich hatte die alte Köchin noch nie weinen oder trauern sehen, doch als sie unser Haus in verrußten Trümmern liegen sah, da rannen ihr Tränen über die Wangen und ihr Gemüt wurde unendlich schwer. Aber Magda war tapfer und in manchen Momenten tapferer als wir alle. Sie hatte einen Schwager, der bei Herrn Aegmar als Stallmeister gearbeitet hatte, und der ganz in der Nähe des zerstörten Anwesens lebte. Kurzerhand hatte sie ihn und seine Frau zu Bekannten geschickt und das Haus für Herrn Aegmar geräumt, den sie keinesfalls dauerhaft in Herrn Fuhrguts Hände geben wollte. Der Heiler von Bree war ihr nicht geheuer, wie sie sagte, und so manches Mal mußten die Worte „Quacksalber“ und „Giftmischer“ gefallen sein, als sie mit ihm einem sehr langen Disput pflegte, der im Wesentlichen darum ging, daß Herr Fuhrgut ihre Meinung darüber nicht teilte, daß nur allein Magdas Hühnersuppe Herrn Aegmar wieder zu Kräften bringen konnte.
Tagtäglich war sie bei ihm, wachte an seiner Seite. Wir alle wachten, doch so manchen von uns übermannte in den langen Nachtstunden die Müdigkeit. Magda nicht. „Wenn der Junge aufwacht, dann will er ein freundliches Gesicht sehen! Das hat er sich verdient!“, sagte sie immer wieder, saß weiter an seinem Bett und machte nur murrend Platz, wenn Fuhrgut zu einem Besuch kam, um nach Aegmar zu sehen.
Er hatte ihn verbunden und die Klinge entfernt, die in Aegmars Bauch gesteckt hatte. Er hatte seine Wunden genäht und alles dafür getan, daß er keine Narben zurückbehielt. Doch der Schnitt, den Aramir Aegmar nahe seines linken Auges beigebracht hatte, wollte nicht verheilen und es blieb ein rotes Mal auf der Haut zurück, das fortan Aegmars dunkle Augenbrauen teilte. Wieviel Glück Aegmar gehabt hatte, daß sein Auge unverletzt war, betonte er oft.
Wir fürchteten zwei Tage und zwei Nächte lang um unseren Fürsten. Er bekam Fieber und er war erschöpft. „Er ist traurig.“, sagte Magda wissend. „Aber wenn wir ihn bei uns und im Leben erhalten wollen, dann darf er nicht mehr traurig sein.“ Und so blieb sie eben und niemand stellte es in Frage.
Herr Winterwoll war ebenfalls am nächsten Tag erschienen und brachte uns mehrere Fuhren Bauholz. Für ein neues Haus, meinte er. Es wäre ja schade drum, wenn wir es nicht wieder aufbauten. Und bezahlen könnten wir irgendwann, wenn es gelegen käme. Die Hälfte schenkte er uns sogar. Magda beauftragte Therowig und Aneawin mit der Aufgabe, sich darum zu kümmern. Und jeder, der einen Hammer und eine Säge halten konnte, wurde zu ihnen geschickt.

So war Magda. Und wir waren ihr alle dankbar. Das Küchenmädchen kam nicht mehr zurück. Sie fürchtete sich. Sie hatte die Anstellung nicht angenommen, um gefährliche Abenteuer zu bestehen, hatte sie verkündet. Sie hatte sich ausbezahlen lassen und dann war sie gegangen. Magda sah mich nur an – und fortan hatte sie eine neue Gehilfin, ob mir das wohl gefiel oder nicht.

Sie rief erneut nach mir.

„Nariena!“

Ich wischte mir die nassen Hände an der Schürze ab, die ich über dem Rock trug und eilte zu dem kleinen Haus. Mein Saum streifte die Blumen, die in Beeten neben der Haustüre wuchsen und den Ort bunt und freundlich erscheinen ließen. Und hätte man nicht hinter dem Haus in die Ferne gesehen, wo Trümmer und verbranntes Gebälk abgetragen wurden, so hätte man glauben müssen, daß dies wahrlich ein Ort von Frieden und Zuversicht war. Ich hoffte, daß er es wieder werden würde, pflückte im Gehen einer Buschrose den roten Kopf ab und betrat das Haus.
Es hatte nur drei Zimmer: eine Stube, einen Schlafraum und eine Küchen- und Abstellkammer. Dort schliefen Magda und ich. Die Türe zur Schlafkammer stand weit offen und ich konnte Magdas ausladende Statur erkennen und ihren Blick, der ungeduldig in die Stube gerichtet war. „Na endlich! Husch, husch, Mädchen!“, machte sie und ich trat etwas erstaunt zu ihr. Ich biß mir auf die Unterlippe, als ich sie drohend neben dem Bett aufragen sah: einen ihrer wulstigen Arme hatte sie ausgestreckt und stemmte ihn gegen Herrn Aegmars Schulter, der im Bett lag und den Blick stur an die niedrige Holzdecke geheftet hatte. Mit dem anderen Arm balancierte sie ein kleines Tablett, auf dem eine dampfende Schüssel bedrohlich sch****te. Fragend sah ich die Köchin an. „Setz Dich da hin, Mädchen!“, befahl sie und deutete mit dem Kinn auf das Bett. Ich folgte ihrer Weisung zögerlich und wollte mich auf die Bettkante setzen, als sie energisch den Kopf schüttelte. „Nicht da hin, DA hin!“, wiederholte sie und deutete nun entschieden auf Aegmars Beine, wie ich zu verstehen glaubte. „Ich soll mich...?“, fragte ich behutsam nach, aber mich traf nur ein harter Blick und ich gehorchte augenblicklich. Etwas unsicher aber kletterte ich auf die Bettdecke und setzte mich auf Herrn Aegmars Beine, der mein Tun mit einem Knurren quittierte.
„Das ist etwas albern, Magda, meinst Du nicht?“, raunte er und seine Augen fixierten nun die Köchin. Mich ignorierte er völlig. Magda starrte zurück und Aegmar war es, der zuerst den Blick abwandte und ihr nicht standhielt. „Der Herr meint, er könnte schon aufstehen und herumspazieren.“, verkündete sie. Sie sprach es zu mir, ließ Aegmar jedoch nicht aus den Augen. Nun sah auch ich ihn an und meine Unsicherheit verflog. Ich schüttelte den Kopf. „Das dürft Ihr doch auch noch nicht, es ist zu früh.“, pflichtete ich Magda bei. „Sehr richtig!“, meinte sie und zog dann ihren Arm zurück. Sie war sich nun sicher, daß meine Unterstützung Aegmar davon abhalten würde, das Bett zu verlassen. „Seit fünf Tagen liege ich hier untätig herum, Du stopfst mich mit dieser Suppe voll – und draußen vor dem Fenster sehe ich die anderen, wie sie arbeiten, wie sie mit vollen Händen versuchen die Spuren des Unfriedens zu beseitigen. Es sollte meine Aufgabe sein, ihnen zu helfen!“, brummte er. „Es wird wieder Eure Aufgabe sein, wenn Ihr genesen seid, Herr Aegmar, und gerade stehen könnt!“, gab Magda zurück. „Und das wird erst geschehen, wenn Ihr die Suppe gegessen und Euch ausgeruht habt! Nariena wird so lange dort sitzen bleiben, bis alles verputzt ist, verstanden?! Albern oder nicht.“ Das galt uns beiden, Aegmar und mir. Ich nickte gehorsam. Er tat es nicht. Magda warf ihm einen letzten mißbilligenden Blick zu, dann schwang sie ihre Hüften und ihre Röcke herum und verließ hoch erhobenen Hauptes das Zimmer. „Eßt!“, war noch einmal aus der Stube zu vernehmen, dann ging sie aus dem Haus und ich konnte durch das Fenster sehen, wie sie im Garten Kräuter zu schneiden begann.

Ich wandte mich an Aegmar. „Vielleicht hat sie Recht.“, versuchte ich behutsam eine Unterhaltung zu beginnen. „Das ist mir gleich, mir geht es viel besser, also kann ich auch etwas tun.“, sagte er. Er sah auf den Teller mit Hühnersuppe, den Magda nun auf einem kleinen Tisch neben dem Bett abgestellt hatte. „Außerdem...wenn Ihr wie eine Henne auf der Stange auf meinen Beinen herumhockt, kann ich nicht essen. Ich muß mich aufsetzen.“, fügte er dann an. Ich zog eine Augenbraue hoch und gab dann langsam nach. Ich erhob mich und stand auf. Doch ich ging nicht, ich setzte mich auf den Stuhl, der ebenfalls neben dem Bett stand und auf dem ich mit Magda zusammen zwei Tage lang gewacht hatte. Immer abwechselnd hatten wir kühlende Lappen auf Aegmars Stirn gelegt, seine Arme und sein Gesicht gewaschen, damit das Fieber zurückging und er nicht gänzlich seine Kraft verlor. Er hatte schon soviel davon verloren – und wenn Magdas Hühnersuppe auch nur ein wenig davon wiederherstellen konnte, dann bei Elendil, war ich vollkommen und ganz auf ihrer Seite.
Aegmar verzog das Gesicht, als er sich mühsam aufrichtete und sich das Kopfkissen in den Rücken schob. Ich wollte ihm zu Hilfe kommen, aber er schob unwirsch meine Hand zurück, daß ich die Hände wieder in den Schoß sinken ließ. Um seine Mitte schlang sich ein ****er weicher Verband und auch sein Kopf war verbunden, sein linkes Auge verdeckt.
Der Löffel fiel ihm einmal aus der Hand, bevor er ihn packen konnte. Dann nahm er den Teller zu sich herüber, er zitterte leicht dabei. Schwer atmend sank er dann in das Kissen zurück und begann langsam zu essen. Er sah mich nicht dabei an.
„Ich kannte einst einen Mann, ich glaube, er war ein sehr edler Herr, der sich große Sorgen um eine Dame machte, die in den Kampf mit einem Troll geraten war. Sie war ein stures Ding und sie fürchtete sich vor vielen Dingen, vor allem vor der Elbenstadt, in der sie nach dem Kampf verletzt zu Bette lag und gepflegt werden mußte.“, sagte ich. Aegmar hielt inne, sah aber auf seinen Teller und nicht auf mich. „Sie wollte rasch fort, als sie glaubte, daß es ihr besser ging. Dabei brummte ihr Kopf ganz ordentlich und Pein fuhr ihr in die Knochen, jedesmal, wenn sie sich bewegte. Aber sie wollte immer tapfer sein und schämte sich, wenn andere sahen, wie schlecht es ihr wirklich ging. Dabei meine ich, daß man sich gar nicht schämen müßte, wenn man gegen einen Troll gekämpft hat. Das ist schließlich schon keine einfache Tat. Und dem edlen Herren, der bei ihr war, dem machte es auch nichts aus, daß sie nur dalag und sich erholen mußte. Er fand auch nicht, daß sie einen Grund hatte, deswegen voller Scham zu sein.“, fuhr ich fort.
Aegmar nahm einen Löffel Suppe und schlürfte ihn vorsichtig. „So, fand er das, der edle Herr.“, meinte er kauend. „Ja, ich glaube schon – weil er recht klug war, und weise und verständig. Und jedenfalls damals noch genau wußte, daß es eben Zeiten gibt, in denen man andere für sich sorgen lassen und Ruhe und Stille annehmen muß, um bald wieder bei ihnen zu sein. Aufrecht und stark. Und daß man nicht unbesiegbar ist.“
So schloß ich. Aegmar schluckte die Suppe hinunter. Und dann schmunzelte er und sah zu mir auf. Er deutete auf meinen Rock und das Mieder, in dem ich steckte. „Es ist ungewöhnlich, Euch so zu sehen, Frau Nariena. Ich dachte zuvor, daß Euch nur Männerkleidung und Stiefel passen. Euer Haar ist auch länger, als ich dachte.“, brummte er dann, doch in seinen Augen lag ein Zwinkern. Ich legte den Kopf leicht schief. „Es ist auch ungewöhnlich, Euch so zu sehen.“, erwiderte ich. „Ihr meint, ohne Klinge in den Händen und ohne Rüstung auf dem Leib?“, fragte er. „Nein...ich meine trotzig wie ein Bub und mit Widerworten gegen die alte Magda, die es doch nur gut mit Euch meint.“, gab ich zurück. „Dann haltet Ihr mich jetzt wohl nicht mehr für klug, weise und verständig. Aber glaubt nicht, daß ich nicht weiß, was Magda getan hat. Und was sie gerade tut. Ich weiß, daß sie jeden Moment hier war. Und ich weiß auch, daß Ihr die ganze Zeit hier bei mir gewesen seid. Ich bin nicht undankbar deswegen. Aber...es ist mir nun einmal zuwider, wenn ich auf die Fürsorge anderer angewiesen bin. Dagegen kann ich nichts tun.“, sagte Aegmar. Er stellte den Teller zurück auf den Tisch und atmete tief aus. Sein Blick glitt sehnsüchtig aus dem geöffneten Fenster hinaus in den Sonnenschein. Ein paar Bienen tanzten in den warmen Strahlen und summten gemächlich ihr Frühlingslied. Ich griff behutsam nach Aegmars Hand. „Wir wollen uns nur einfach nicht um Euch sorgen.“, erklärte ich und ließ seine Hand dann wieder los. Aegmar dachte eine Weile nach und ich sagte nichts mehr. Irgendwann nickte er. Und dann suchte er meinen Blick. „Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten, Nariena. Wenn Ihr mir diesen tut....dann verspreche ich, daß ich alles tun werde, was Magda mir sagt...“

Ich schürzte leicht die Lippen. Ich hatte Aegmar nie zuvor mißtraut, aber in jenem Augenblick tat ich es. „Was für einen Gefallen?“, fragte ich daher auch nur zögerlich. Er senkte den Blick. „Ich möchte es sehen.“, sagte er leise und ich legte den Kopf schief, abwartend, bis er sich weiterhin erklären würde. „Ich möchte Aramirs Grab sehen. Ich weiß, daß ihm verweigert wurde, auf dem Friedhof eine Ruhestatt zu finden und daß Ihr aber abgelehnt habt, daß er auf dem Armenacker begraben werden soll. Ihr dachtet, daß es gewiß in meinem Sinne sei – und Ihr hattet Recht damit. Die Dinge sind geschehen, wie sie geschehen sind. Das Schicksal entscheidet nicht immer in unserem Sinne, weder in meinem, noch in Aramirs hat es das getan.“ Aegmar sah nun wieder aus dem Fenster, hinaus auf einen der Hügel, die die Siedlung umrahmten. „Dort oben ist es, nicht wahr? Therowig hat es mir gesagt.“ Ich nickte. „Ja. Wir hielten es für angebracht. Er war ein Räuber. Und seine Seele von einem bösen Geist bewohnt. Aber dennoch – es gab etwas an ihm, das uns ebenso wie Euch daran hinderte, ihn vollends wie einen Dämon zu betrachten. Vielleicht nur der Gedanke daran, daß er Euer Bruder war. Ein simpler Gedanke, aber ein ausreichender.“, erwiderte ich. Aegmar drehte langsam den Kopf. „Würdet Ihr mich also dorthin bringen? Ich mich möchte noch einmal verabschieden. Und dann wird ein für allemal Frieden sein und ich finde vielleicht die Ruhe, die ich brauche.“, sprach er und ich konnte ihm ansehen, daß es ihm wahrhaft ernst damit war. „Selbst wenn ich Euch gehen ließe, mein Herr...Magda würde es nicht tun.“, erwiderte ich. „Ich weiß. Darum bitte ich auch Euch. Ihr werdet einen Weg an ihr vorbei finden.“, meinte Aegmar und lächelte. Ich lächelte nicht. „Das ist mehr als ein Gefallen. Ihr bittet mich, Schuld auf mich zu laden. Es ist kein kurzer Gang in die westlichen Hügel und ich weiß nicht, ob...“ „...ob ich ihn durchhalte.“, unterbrach er mich. „Ich spreche Euch von jeglicher Schuld frei, Frau Nariena, wenn es meine Entscheidung ist, Euch in eine solche Lage zu bringen.“
Ich seufzte und betrachtete lange Aegmars Gesicht. Seine hellen Augen blickten ruhig und doch lag etwas Neues in ihnen, das ich vor dem Kampf nicht an ihm wahrgenommen hatte. Etwas von Aegmars Güte war verlorengegangen und an ihre Stelle war etwas Hartes getreten: wie eine Wand, die etwas einschloß, daß er nicht mehr im Licht betrachten wollte. Es war mir fremd und ich wollte, daß dieser Ausdruck wieder verschwand. Also nickte ich schließlich und willigte ein. „Ich finde immer einen Weg.“, sagte ich nur und hörte ihn erleichtert aufatmen. Ich wollte ihm noch sagen, daß er wach bleiben und nach Einbruch der Nacht auf mich warten sollte, aber wir wurden plötzlich unterbrochen. Die Haustüre öffnete sich und Magdas Stimme erklang. Sie war aufgeregt, mit einem ehrfurchtsvollen Unterton. Alsbald ragte ihre mächtige Erscheinung im Türrahmen der Schlafkammer auf und sie deutete eine Verbeugung an. „Herr, Ihr habt Besuch. Es ist der Bürgermeister, er ist persönlich hergereist, um nach Euch zu sehen!“, verkündete sie und eilte mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht sogleich herbei, um das Geschirr abzuräumen. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie gleichzeitig die Decken glatt und über Aegmars Haar. Er wich ihrer großen Hand leicht aus, als sie ihm auch noch über dem Bart fuhr, als müsse sie einen Knaben für einen Festakt herrichten. Aegmar brummte und ich mußte schmunzeln, als Magda rasch die Kammer wieder verließ, unbeholfen knickste und zu jemandem, der längst das Haus betreten hatte, sprach: „Der Herr ist nun bereit, Euch zu empfangen. Bitte tretet doch näher!“


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

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#9

RE: Von Freundschaft und Finsternis, Teil II

in Geschichten und Erzählungen 19.12.2010 00:30
von Nari • Meisterschreiber | 592 Beiträge

Als ich Bürgermeister Zartlärche sich nähern hörte, erhob ich mich. Seine schweren Stiefel klangen dumpf auf dem alten Holzboden und es mußte selbst für Aegmar eine Ehre sein, daß der Stadtvorsteher von Bree hier heraus kam, um sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen, doch ich wollte ihm nicht unbedingt begegnen. Ein bißchen hielt ich es sogar für selbstverständlich, daß er seine Aufwartung machte, schließlich wäre mein Fürst gar nicht erst in diese Lage geraten, hätte seine unerschütterliche Loyalität zu diesem Mann ihn nicht geradewegs hineingeführt. Aber das waren törichte Gedanken, gestand ich mir dann ein. Aegmar hatte jede seiner Entscheidungen selbst getroffen, und er hatte es nie leichtfertig getan. Auch war er damit nur selten fehl gegangen, so gut kannte ich ihn. Und es bestärkte mich darin, daß ich dem Gefallen stattgegeben hatte, um den er mich bat. „Später also.“, sagte ich nur knapp und wandte mich dann um. „Herr Aegmar!“, erscholl es kraftvoll hinter mir und ich wäre beinahe mit dem Bürgermeister zusammengestoßen, der nun direkt hinter mir stand. Ich senkte sofort den Kopf und beeilte mich, meine Schürze zu raffen. Ich hob sie an mein Gesicht und gab vor, daß ich mir etwas von Stirn und Wange wischen müsse. Ich hoffte, daß es mich vor Zartlärche verbarg, aber er runzelte bereits die Stirn und tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an das Kinn. Er kannte mich. Und ich kannte ihn. Lange war es her, aber ich hatte nicht nur einmal vor ihm gestanden und für mich einen Diebstahl oder einen Streich verantwortet. „Ist das nicht...“, begann er stutzend, doch bevor er sich vollends an mich erinnerte, war ich aus dem Zimmer gelaufen. Ich vernahm gerade noch, wie er näher zu Aegmar trat und dann erklang ihre Unterhaltung nur noch verhalten.
Ich eilte hinüber in Richtung der Baustätte, auf der eifrig der Bau des neuen Hauses begonnen hatte. Aber meine Gedanken weilten andernorts. Sie weilten bei Magda in der Küche.

Magda hatte einen sehr tiefen Schlaf und ich wußte von vergangenen Nächten zu berichten, wo sie mir den meinen geraubt hatte, weil sie bisweilen wie ein Holzfäller zu schnarchen pflegte. Aber ich war sicher, daß sie, wenn es um alles ging, das mit ihrem Schützling zu tun hatte, zu dem sie Herrn Aegmar zweifelsohne gemacht hatte, stets ein Auge offen hielt.
Es beschlich mich ein ungutes Gefühl, als ich ihr vor dem Abendessen Baldrian in den Kelch gab und einen besonders süßen und schweren Wein wählte. Baldrian wuchs wild im Garten, oft hatte sie ihn geschnitten und daraus Tee für Herrn Aegmar gekocht. Nun kostete sie ihn selbst. Als sie wirklich schlief, schritt ich durch das Haus, mehr wie ein Geist als ein Mensch.
Ich klopfte nicht an Aegmars Kammer an, um keine unnötigen Laute zu verursachen, sondern öffnete die Türe gleich. In einer Hand hielt ich eine Kerze und in der anderen einen Becher. Er saß auf dem Bett und wartete ungeduldig und ich stellte fest, daß er es bereits bewerkstelligt hatte, in seine Hosen zu steigen. Unter Anstrengung, wie ich ihm ansah, denn er atmete schwer. Ich gab ihm den Becher. „Blutwurz. Gegen die Schmerzen.“, sagte ich nur knapp und half ihm dann, sein Hemd anzuziehen, nachdem er den Aufguß widerstandslos geleert hatte.
Wir waren langsam, als wir das Haus verließen und durch den Garten in Richtung der Hügel gingen. Die Blumen hatten ihre Kelche in der Dunkelheit geschlossen und nur ein paar Grillen zirpten im hohen Gras, das auf den Wiesen hinter dem Haus wuchs. Nicht einmal ein zarter Wind wehte, der im Breeland sonst nur selten zum Schweigen zu bringen ist.
Keiner von uns sagte ein Wort. Aegmar preßte die Lippe leicht aufeinander und seine Schritte wurden erst sicherer und fester, als wir den Pfad erreichten, der sich vom Rande des Anwesens hinauf in die Hügel wand. Der Blutwurz begann zu wirken und Aegmar richtete sich auf. Er straffte sich. Und hatte er sich vorher dicht hinter mir gehalten, so überholte er mich nun und ging voran. Noch immer war sein Gang nicht so selbstsicher, wie ich ihn kannte und ich achtete sehr darauf, daß ich sofort nach ihm greifen konnte, sollte er ins Straucheln geraten, aber Aegmar bot mehr Kraft auf, als ich es angenommen hatte.
Ich war dennoch nicht zuversichtlich.

Der Mond wanderte über uns hinweg und suchte seinen Weg am Himmel weiter nach Osten, als wir Meter um Meter dem Pfad folgten und immer höher stiegen. Unter uns lagen die Dächer der Hütten und Häuser in der Dunkelheit und nur wenige Lichter wiesen uns den Weg zurück.
Aegmar blieb irgendwann stehen und sah sich um. „Wohin nun?“, fragte er und wandte sich zu mir. Daß seine Stimme nach der langen Stille plötzlich laut erklang, ließ mich für einen Moment zusammenzucken und mich einen hastigen Blick zurück über meine Schulter werfen. Aber es war niemand dort. Niemand außer uns beiden. Ich dachte kurz an Magda und versuchte zu erspüren, wie ihr Kochlöffel sich wohl auf meinen Schultern und meinem Rücken anfühlen würde, wenn sie je herausbekam, was ich heute Nacht getan hatte. Selbst Therowig und Aegmar zusammen würden mich vermutlich nicht vor ihr beschützen können. Doch als Aegmar noch näher zu mir trat und ein noch dunklerer Schatten auf mich fiel, schob ich meine Befürchtungen wieder beiseite. „Noch ein Stück geradeaus. Dort, wo die große Birke wächst, ist es.“, erwiderte ich. Aber ich flüsterte, ich wagte nicht, laut zu sprechen. Ich glaubte, daß Aegmar mir zunickte und dann drehte er sich wieder um. Ich folgte ihm nur noch ein paar Schritte. Als der Baum, den ich ihm beschrieben hatte, sich schwarz gegen den sternenbleichen Himmel abzuheben begann, blieb ich stehen und ließ Aegmar alleine weitergehen. Ich richtete den Blick zurück auf das Tal. Es erschien mir angebracht.

Das Grab war schmucklos. Wir hatten es mit Steinen beschichtet, die wir in den Hügeln gefunden hatten. Magda hatte es sich trotz allem nicht nehmen lassen, einen winzigen Strauß Holunderblüten niederzulegen, aber die Stätte enthielt nicht einmal einen Stein, auf dem man je Aramirs Namen würde lesen können.
Nur einmal drehte ich mich um und suchte Aegmars Gestalt in der Dunkelheit. Ich brauchte einige Momente, bis ich in unter den langen Ästen der Birke ausgemacht hatte. Er stand ruhig da, ging dann langsam in die Hocke und berührte einen der Steine. Er hatte nun endgültig Abschied genommen – und ich hoffte, daß es ihm den Frieden gebracht hatte, auf den er gehofft hatte. Oder daß er sich zumindest bald einstellen würde. Ich wußte, wie es sich anfühlte, wenn ein dunkles Kapitel im Buch des Lebens geschrieben wurde und man verzweifelt versuchte, den Deckel zuzuschlagen, um es zu beenden. Aber es gab viele Kapitel und manche nahmen nie ein zufriedenstellendes Ende. Eine Zeit lang glaubte man das, doch die Hoffnung war trügerisch und letzten Endes fand sich immer jemand, der nur allzu bereitwillig ein paar vergessene Zeilen rezitierte und sie zu neuem Leben erweckte. Das wurde mir wieder einmal bewußt, als ich Bürgermeister Zartlärche heute begegnet war. Ich war eine sehr lange Zeit nicht mehr im Breeland gewesen, und hier, in dieser kleinen Siedlung, hatte ich mich auch endlich wieder in diesem Landstrich wohl und heimisch gefühlt. Ich ahnte jedoch, daß es sich wieder ändern könnte.
Der Protagonist in Aegmars Kapitel aber war tot und wenn er es abschließen konnte, so wünschte ich ihm, daß es endgültig sein mochte.
Er trat schließlich wieder zu mir und ich bemerkte, daß er erschöpft war. Sein Stand war unsicher und er fuhr sich einmal mit der Hand über die Stirn. „Wir sollten nun wieder zurückgehen.“, entschied ich. Er mußte sich ausruhen, das war mir mehr als deutlich. „Ich möchte mich trotzdem zuerst bedanken.“, sagte er leise. Ich nickte nur und mein Fuß fand den Pfad, auf dem wir hergekommen waren. „Nein, ich meine es ernst.“, fuhr er fort, als ich nichts erwiderte.
„Ich weiß, daß ich Euch in der letzten Zeit ständig dazu angehalten habe, einige...nennen wir es Gewohnheiten...abzulegen. Und nun bin ich es, der Euch dazu bringt, jemanden zu betrügen, den Ihr sehr schätzt. Aber ich bin schuldig, Euer Mittäter zu sein. Ich habe Magda ebenso gern.“ Ich hörte an seinem Tonfall, daß er schmunzelte, als er das sagte. „Darf ich fragen, wie Ihr sie davon abgehalten habt, unsere Missetat zu entdecken?“ Ich schmunzelte nun ebenfalls, schritt aber weiter voran. Langsamer diesmal. „Wein und ein paar Kräuter, das war alles. Sie gibt sich wie ein Drache, aber im Inneren ist sie oftmals ein Lamm.“, antwortete ich. „Und was seid Ihr?“, fragte Aegmar unvermittelt und ich blieb nun doch stehen. „Wie meint Ihr das?“, sagte ich in die Nacht, an seine dunkle Silhouette gewandt. Er lachte. „Ich meine...Ihr seid die Gehilfin meiner Kerkermeisterin. Zudem seid Ihr eine unerschrockene, wenn auch ungewöhnliche Kämpferin. Dann versteht Ihr Euch noch darauf eine Heilerin zu sein und auch eine Köchin. Ihr seid eine...Schurkin...und dann will ich doch wieder meinen, daß Ihr etwas von einem Gelehrten habt. Von jedem meiner Gefolgsleute weiß ich genau, was er ist – bei Euch weiß ich das nicht.“ Ich setzte langsam meinen Weg fort. „Muß ich denn etwas sein? Kann ich nicht einfach nur Nariena sein?“, meinte ich schließlich. Aegmar schien eine Weile darüber nachzudenken. „Das ist wohl das Beste. Daß Ihr einfach Nariena seid. Ich werde mich wohl irgendwann schon daran gewöhnen.“, entschied er schließlich. „Irgendwann...“, sagte ich und wurde nun ebenfalls nachdenklich. „Das setzt voraus, daß wir noch eine sehr lange Zeit miteinander verbringen werden.“, erwiderte ich. Ich hörte, wie Aegmar strauchelte, sein Stiefel stieß gegen einen Stein. Ich fuhr augenblicklich herum und wollte unter seine Achsel greifen, um ihn zu stützen, aber er hatte sich schon wieder gefangen. Seine Kräfte jedoch waren beinahe aufgebraucht. „Werden wir das denn nicht?“, fragte er müde und doch mit einem aufmerksamen Unterton, der darauf schließen ließ, daß all seine Sinne scharf wie die eines F.uchses waren.
Ich spürte einen seltsamen Stich in der Brust. Seit ich Zartlärche begegnet war und er so dicht vor mir gestanden hatte, den argwöhnischen Blick einer unguten Erinnerung auf der Miene, mußte ich wohl unbewußt darüber nachgedacht haben, wie lange ich noch hier verweilen würde. Das wurde mir nun bewußt, da Aegmar es für mich ausgesprochen hatte.

Ich war froh, daß das Haus vor uns auftauchte und wir schweigen mußten, ich so für eine Antwort noch ein wenig Aufschub bekam. Magda schlief tatsächlich noch und auch das Knarren der Haustür, als ich sie behutsam aufschob, weckte sie nicht. Aegmar sank entkräftet auf sein Bett und auch wenn er dagegen ankämpfte, so konnte er für einige Momente nichts anderes tun, als auf dem Rücken liegen zu bleiben und die Augen zu schließen. Er atmete schwer, doch im Kerzenlicht sah ich, daß seine Züge nun wieder etwas Ruhigeres hatten, etwas Entspannteres. Ja, etwas Friedvolleres. Er würde gewiß mit diesem Teil seines Lebens abschließen, auch wenn er ihn nie vergessen würde. Allein die Narbe, die seine Braue teilte und sich bis auf seinen Nasenflügel hinabzog, würde immer davon künden. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Bett und griff nach einem seiner Stiefel, um ihn auszuziehen.
Und als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er plötzlich: „Ihr habt meine Frage nicht beantwortet – oder war Euer Schweigen bereits die Antwort?“ Ich legte seinen Fuß auf mein Knie und sah in sein Gesicht, er hatte die Augen wieder geöffnet. „Ja und Nein.“, sagte ich leise. „Herr Aegmar...Zeit spielt in manchen Dinge nur eine kleine Rolle, für einen Elben gar spielt sie gar keine. In anderen wiederum ist sie alles, was zählt. Und ich fürchte...für mich ist noch nicht genügend Zeit vergangen, um Euch allzu klar antworten zu können, daß ich bleiben werde. Manche Entscheidungen hängen nicht von uns selbst ab.“
Aegmars Fuß bewegte sich auf meinem Knie, als er sich aufsetzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte. „Ist es wegen Zartlärche?“, fragte er. „Ja.“, erwiderte ich und es war die Wahrheit. „Habt Ihr Angst vor ihm?“, fragte Aegmar weiter nach. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht vor ihm, aber vor dem, was er vielleicht tun könnte.“, fuhr ich fort und auch das stimmte. Aegmar verschränkte vorsichtig die Arme vor der Brust. „Er hat mich auf Euch angesprochen, das kann ich nicht leugnen.“ Ich biß mir auf die Unterlippe. „Muß ich mir Sorgen machen?“ Aegmar schüttelte zur Antwort den Kopf und setzte ein Lächeln auf, das beinahe einen ungewöhnlich schelmischen Anschein hatte. „Nicht, solange er mir ob der vergangenen Angelegenheit hier etwas schuldet.“, verkündete er. Ich senkte den Blick und zog ihm endlich den Stiefel vom Fuß, hielt ihn aber noch in der Hand. „Ihr schuldet mir auch etwas.“, sagte ich. „Und was möchtet Ihr dafür haben? Wie könnte ich meine Schuld begleichen?“, fragte Aegmar. Ich mußte nicht lange überlegen. „Mit einem neuen Umhang.“, erwiderte ich und er lachte. Ich wollte seinen Stiefel abstellen, aber er glitt mir aus der Hand, denn ich mußte auf einmal auch lachen und mein Schwermut wurde von diesem Lachen aus meinem Herzen getrieben.
Der Stiefel verursachte einen dumpfen Aufprall und ich erschrak, mit geweiteten Augen starrte ich Aegmar an, der meinen Blick genauso erschrocken erwiderte. Wir mußten auch nicht lange warten, als wir hörten, wie Magda sich regte und die Türe zur Stube geöffnet wurde. Rasch zog Aegmar sein Bein von meinem Knie auf das Bett und warf die Decke über das andere, das noch in dem Stiefel steckte.
Als Magda die Stube durchquert und die Tür zur Schlafkammer geöffnet hatte, sahen wir sie beide an – mit der größtmöglichen Unschuld auf unser beider Mienen. Schlaftrunken blinzelte die alte Köchin in das Zimmer. „Ist etwas mit dem jungen Herren? Seid Ihr wohlauf?“, fragte sie nicht ohne Sorge. Aegmar und ich schüttelten beide gleichzeitig den Kopf, dann nickten wir auch beide gleichzeitig. Magda erwartete jedoch eine Erklärung, und zwar eine gute, warum wir hier beisammen saßen und ihr Schützling offenbar um seinen notwendigen Schlaf gebracht wurde. Ich spürte, wie ich errötete. „Frau Nariena beschrieb mir gerade, wie ihr Zimmer im neuen Haus aussehen solle. Es sollte größer sein als das alte, da sie gewiß mehr Platz benötigt. Sie wird noch eine lange Zeit hier bleiben.“, sagte er.
Magda blinzelte ungläubig. Und ich auch sah Aegmar ungläubig an. Dann verengte ich die Augen und kniff ihn leicht in den Unterschenkel, daß er zusammenzuckte. Aber ich mußte aufrichtig lächeln.

Ja, manchmal hing es wirklich nicht von uns selbst ab, Entscheidungen zu treffen. Aber das war gleich, wenn sie jemand traf, der wußte, welche zu treffen war – noch bevor man es selbst wußte.



~ ENDE ~

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http://www.youtube.com/watch?v=ovA9E91UEZ4&feature=related


Arsenica: 'Juhu, mehr knatschig, mehr schreien, mehr zanken, mehr Nari!!!'

zuletzt bearbeitet 23.02.2012 22:14 | nach oben springen


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